Es ist das Jahr 1988. Während die Fans des Adventure-Genres in der westlichen Welt gerade alle Hände voll zu tun haben 'Zak McKracken' bei der Befreiung der Menschheit von üblen Aliens zu helfen, erblickt im fernen Japan eine echte Adventure-Perle das Licht der Welt. Unter der Leitung von Hideo Kojima, der mit 'Metal Gear Solid' zehn Jahre später ein neues Spielgenre erschaffen sollte, erscheint für den japanischen Heimcomputer NEC PC-8801 das Cyberpunk-Adventure 'SNATCHER'. Nach einer Portierung für den MSX2 im gleichen Jahr erscheint das Spiel 1992 für die PC-Engine und vier Jahre später für Sonys Playstation und Segas Saturn. In den acht Jahren die zwischen der Erstveröffentlichung und den finalen Portierungen für die Next-Gen Konsolen von einst liegen, wächst um 'SNATCHER' schnell eine große Fangemeinde die das Spiel bis heute in Ehren halten. Und das aus gutem Grund: eine unglaubliche Tiefe der Story, detaillierte Characterentwürfe und ein grandioses Gameplay lassen einen noch heute Staunen, dass dieses Schmuckstück mittlerweile 20 Jahre auf dem Buckel hat. Zusammen mit der bemerkenswerten englischen Sprachausgabe, die 1994 hinzugefügt wurde, ist 'SNATCHER' noch heute ein unglaubliches Spielerlebnis und sollte von keinem Freund des Genres übersehen werden.
Es ist eine bedrückende und kalte Welt in der sich die Menschen 2046 bewegen. Und bedrohlich noch zudem. Nachdem fünfzig Jahre zuvor eine versehentliche Freisetzung eines Biokampfstoffes in die Atmosphäre auf dem Testgelände Chernoton in Moskau etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ausgelöscht hat, lebt die Menschheit nun in ständiger Angst vor dem Staat und vor sich selbst. So geht es auch den Bewohnern von Neo Kobe, einer Metropole Japans, die zusätzlich zum vergangenen Schrecken nun mit einer neuen und genau so ernsten Bedrohung konfrontiert werden: seit einigen Monaten wird die Stadt von einer Welle von Bioroids heimgesucht, künstliche Lebensformen die dank modernster Gentechnik über ihrem metallenen Endoskelett eine menschliche Haut tragen, die sie auf den ersten Blick von einem Menschen nicht unterscheidbar machen. Die Bioroids, die von den Medien schnell Snatcher genannt werden sind aggressiv und skrupellos. Sie infiltrieren die menschliche Gemeinde indem sie Individuen umbringen und dann deren Identität, samt ihrer Jobs und Gewohnheiten übernehmen. Die Snatcher-Vorfälle nehmen schnell überhand, sodass die örtliche Polizei schnell eine Sonderkommission gründet, die sich ausschließlich mit dem Aufspüren und Ausschalten von Snatchern befasst. Während die Ordnungshüter, Junker genannt, fieberhaft daran arbeitet die grausame Invasion zu stoppen, wird in den oberen Etagen verzweifelt nach der Herkunft und der Motive der Snatcher geforscht.
Gameplay
Man hat sich gerade erst von der fesselnden Introsequenz erholt, da wird man als Spieler auch schon ins kalte Wasser geworfen. Das Spiel startet unmittelbar nachdem Gillian Seed zum ersten Mal das Junker Hauptquartier betritt. Als deren neuer "Runner" soll er an der Seite von Jean Jacque Gibson, dem erfahrenen Junker, die Stadt vor der tödlichen Bedrohung beschützen. Aber Gibson ist nicht kontaktierbar und niemand weiß genau, welche Spur er gerade verfolgt. Daher geht es gleich mit Detektivarbeit los. Wo steckt Gibson?
Ihr steuert das Spielgeschehen mittels eines First-Person-Interface, dass in den meisten Fällen in der oberen Bildschirmhälfte exakt das zeigt, was Gillian Seed gerade sieht. Das Spiel scrollt dabei nicht sondern zeigt einzelne Shots, in denen sich nur einige Kleinigkeiten bewegen. Darunter befindet sich eine Ansammlung von Aktionsverben, mit denen der Spieler Gillians Aktionen steuert. "Look" lässt Gillian einen Blick auf die Gegenstände, Personen oder Umgebung werfen, die sich im Blickfeld befinden. "Investigate" bedeutet intensiveres Nachforschen und stellt das Untersuchte in Verbindung mit dem Fall. "Move" lässt Gillian von einem Ort zum anderen wechseln und "Use Metal Gear" bezieht sich auf den munteren kleinen Roboter, der Gillian bei seinen Untersuchungen mit Rat und Tat zur Seite steht, und neben Datensicherung und einer Taschenlampe auch den Spielstand speichern kann. Und ein Telefon mit dem man diverse Bewohner Neo Kobes erreichen kann, hat der Roboter auch noch im Gepäck.
Je nach Spielsituation können auch zusätzliche Aktionsverben wie "Listen" oder "Smell" im Menü auftauchen. Einmal angewählt wechselt das Verbmenü zu einer Auflistung aller Sachen oder Personen mit denen Gillian an diesem Ort interagieren kann. Auch Items die Gillian im Laufe des Spiels an sich nimmt, können so durch das Menü angewählt werden. Diese Art der Steuerung bietet ein komfortables Handling des Spiels und sorgt dafür, dass man die Maus, bevorzugtes Steuerungsinstrument des Adventuregenres, so gut wie gar nicht vermisst. Direktes Eingreifen in den Grafikbildschirm ist nur in den Action-Sequenzen möglich. Wenn die Snatcher angreifen muss sich Gillian mit seinem Blaster wehren. Dann wird ein Gitter aus 3x3 Feldern über den Bildschirm gelegt innerhalb derer der Spieler auf die Angreifer schießt. Dies geschieht je nach Version und Verfügbarkeit entweder mittels Joypad oder Lightgun.
Komplexe Charaktere
Das Spiel legt unglaublich viel Wert auf glaubhafte, komplexe Charaktere. Gillian und Co haben eine Seele, Empfindungen und Bedürfnisse, daran lässt 'SNATCHER' keine Zweifel. Die düstere Vergangenheit Gillians, die sich dem Spieler parallel zur fortschreitenden Haupthandlung offenbart, macht seine Figur noch interessanter und seine Beziehung zu den Snatchern noch mysteriöser. Auch die Figuren die Gillian auf seiner Suche nach Antworten trifft sind niemals langweilig und wirken nie als ob sie nur zum Zweck der Storyentwicklung erschaffen wurden. Außerdem gilt in Snatcher ein altes deutsches Sprichwort: man trifft sich immer zweimal im Leben. Oft sind die Nebenfiguren stärker in die Handlung integriert als man zunächst annehmen würde und tauchen unvermittelt an einer anderen Stelle wieder auf. Da hilft nur gute Detektivarbeit um den Überblick zu behalten.
Die Detektivarbeit ist tatsächlich auch der Hauptbestandteil des Spiels. Dabei wurde viel Wert auf Gründlichkeit gelegt. Oft müssen einzelne Sachverhalte genauestens erörtert und Gegenstände aufs gründlichste untersucht werden, bevor Seed und Metal Gear ihre Ermittlungen fortsetzen können. Das mag dem einen oder anderen ungeduldigen Spieler vielleicht manches Mal ein wenig zu langsam erscheinen, trägt aber im Großen und Ganzen nur zur Atmosphäre des Spiels bei und vermittelt authentische Detektivarbeit. Ob man einen Informant ausquetscht, der nicht alles preisgeben will was er weiß, ein Phantombild auf Grundlage von Personenbeschreibungen erstellt, oder eine verschlüsselte Botschaft dekodiert werden muss, Gillian macht keine halben Sachen. Niemals werden die Schlüsse aus wagen Vermutungen gezogen. Es stecken immer harte Arbeit und harte Fakten hinter Gillians Vorgehensweise. Das untermauert schließlich nicht nur Gillians stures und besessenes Wesen sondern geht irgendwann auch in Fleisch und Blut des Spielers über. Gillians Methoden werden schnell adoptiert, sodass man nach einer Weile an einer neuen Location nach gewissen Mustern vorgeht. Was sehe ich hier? Kann das etwas mit meinem Fall zu tun haben, mit den Hinweisen die ich mit mir führe? Kann es bei näherer Betrachtung auch etwas anderes sein?
Grafik und Sound
Obgleich die Story auch 20 Jahre nach Erstveröffentlichung keinerlei Vergleiche mit aktuellen Titeln scheuen muss, ist die Grafik heutzutage schon ein wenig altbacken. Die englische Version, die es nur auf Segas Mega-CD gibt, muss mit 64 Farben und 16-Bit auskommen. Das limitiert natürlich die Auflösung der Bilder. Wenn man sich aber erst einmal an die Retrografik gewöhnt hat, dann beeinträchtigt sie das Spielvergnügen zu keiner Zeit. Die Bilder in 'SNATCHER' sind immer mit viel Liebe zum Detail gezeichnet und achten stets darauf, dass alles was an der Location interessant sein könnte auch zur Geltung kommt. Da der Chip des Mega-CD nicht besonders gut für Videos geeignet ist, sind die Animationen eher selten und dann auch relativ hölzern. Gott sei dank fokussiert das Spiel aber nie Grafikpracht sondern nutzt die Darstellung als visuelle Unterstützung der hervorragenden Handlung.
Musik und Sound wiederum sind bei 'SNATCHER' eindrucksvoll inszeniert. Das Spiel wartet mit gut einem Dutzend verschiedener Tracks auf, die je nach Stimmung eingespielt werden. So wird die Musik dramatischer je näher man einem Snatcher kommt, untermalt die Actionsequenzen mit einem packenden Sound und wird auch mal schnulzig, wenn Seed mit seiner Frau am Videotelefon spricht. Und apropos sprechen: die Sprachausgabe von 'SNATCHER' ist nichts anderes als brillant. Selten kamen Emotionen in einem Videospiel so glaubwürdig rüber wie in Kojimas düsterer Zukunftsvision. Jede der Figuren hat eine passende Stimme bekommen die ihrem Charakter entspricht und so oft die nun relativ überholte Grafik kompensiert. Dabei muss erwähnt werden, dass die Sprachausgabe nicht durchgehend existiert. Lediglich Schlüsselszenen werden mit Sprachausgabe untermalt. Dazu wird in einem kleinen Fenster derjenige eingeblendet, der sich gerade zu Wort meldet. Kombiniert vermittelt das Ganze oft den Eindruck eines interaktiven Comics bei dem man das nächste Bild durch seine Aktionen beeinflussen kann.
Versionen und Verfügbarkeit
Daher ist die einzige Möglichkeit 'SNATCHER' heutzutage legal zu genießen, ein Einkauf bei Online-Auktionshäusern, wo meistens einige Kopien des SEGA-CD Spiels angeboten werden. Eine Konsole wird dank existierender Emulatoren, wie GENS, nicht mehr benötigt.
'SNATCHER' ist, trotz der 20 Jahre die das Spiel auf dem Buckel hat, immer noch ein bemerkenswertes Adventure. Die Story ist spannend, abwechslungsreich und wird mit einer unglaublichen Liebe zum Detail erzählt. Wer sich länger im Spiel aufhalten möchte, kann Prank-Calls durchführen, mit den weiblichen NPCs flirten oder sich auf die Suche nach den zahlreichen Anspielungen auf die Popkultur der Achtziger machen. 'SNATCHER' wird durch die Tiefe des Spiels, die Glaubwürdigkeit der Charaktere und nicht zuletzt durch die dramatische und ernste Handlung, real. Wen Detektivspiele reizen und wer Filme wie 'Blade Runner' und 'Terminator' liebt, der ist bei 'SNATCHER' genau richtig. Mit einer Spielzeit von etwa 15 Stunden ist 'SNATCHER' verhältnismäßig kurz, nicht aber zu kurz um sich vom Spiel packen zu lassen. Die Grafik ist gemessen an heutigen Spielen überholt, fällt aber nicht negativ ins Gewicht und kann, nachdem man sich im Spiel zurecht gefunden hat, mit dem einen oder anderen Shocker dem Spieler mitunter ganz schönes Herzrasen geben. Alles in allem ist 'SNATCHER' ein tolles Spiel, das einen von der ersten Minute an fesselt und wünschen lässt, dass manche Entwickler heutzutage nur halb so viel Wert auf die Story legen würden.