Wir kennen sie aus Fabeln, Kinderbüchern, Kinofilmen und Fernsehserien . Oft personifizieren sie eine bestimmte menschliche Eigenschaft: Schläue, Aggressivität, Hinterlist, Edelmut oder Selbstverliebtheit. Die Rede ist von anthropomorphen Tierfiguren. Egal ob Kermit aus der Muppetshow, Ka aus dem Djungelbuch oder Hase und Igel aus der Folklore – das vermenschlichen von Tierfiguren ist ein alter Hut. Auch in Videospielen ist Anthopromorphismus ein beliebtes Stilmittel. Das ungehobelte Eichhörnchen aus 'Conker’s Bad Fur Day' oder der schlaue Waschbär aus 'Sly Raccoon' sprechen, gehen, denken und besaufen sich (ok, das gilt tatsächlich nur für das böse Eichhörnchen Conker) ganz wie Vorbild Mensch. Der Vorgang der Anthropomorphisierung wird dagegen in den seltensten Fällen thematisiert. Niemand hinterfragt warum Kermit aus der Muppetshow reden und denken kann wie ein Mensch und warum er der Produzent und Conférencier einer Variety-Show ist. Das ist im 1994 erschienen Adventure 'Erben der Erde – Die große Suche' (Inherit the Earth – Quest for the Orb) von The Dreamers Guild etwas anderes. Schon im Vorspann wird den menschlichen Spielern genau erklärt warum man im folgenden Abenteuer keinem jungen Mann beim Einstieg in die Piraterie unterstützen, oder einer jungen Dame bei der Flucht aus einem Irrenhaus helfen muss, sondern stattdessen einen Fuchs, ein Wildschwein und ein Elch durch die Lande steuert um eine große Verschwörung aufzudecken. Als die Tiere den Wald verließen, haben sie sicher nicht damit gerechnet eines Tages die Erde vererbt zu bekommen. Genau das ist in diesem Adventure aber passiert. Wer weiter liest erfährt, ob sich das Erben gelohnt hat.

Das Finale des großen Rätselturniers
Einer der absoluten Höhepunkte des Jahrmarktes ist der Rätselwettbewerb. Die Teilnehmer müssen viele kniffelige Aufgaben lösen und sich in komplizierten Spielen beweisen, bevor sie die Goldmedaille und den ersten Preis für ihre Schlauheit ausgehändigt bekommen. Im Finale stehen sich dieses Jahr Rif vom Stamm der Füchse und Scorry vom Stamm der Ratten gegenüber. Beide brüten schon lange über dem Spielbrett. Die Stimmung unter den vielen Zuschauern ist merklich angespannt. Plötzlich schnellt Scorrys Pfote nach vorne und hastig bewegt er seinen Paladin ins rettende Ziel. Er springt auf und reist beide Arme in die Höhe: „Gewonnen!“ Sein Jubel hallt im Publikum wieder. Der Sieger des diesjährigen Rätselwettbewerbes ist Scorry. Stolz lässt er sich vom Schiedsrichter die Goldmedaille umhängen. Rif aber, bleibt wie versteinert auf seinem Platz. Er kann es kaum fassen, dieses Spiel noch aus der Hand gegeben zu haben. Lange Zeit sah er wie der sichere Sieger aus. Aber anstatt sich auf das Spiel zu konzentrieren, hat er in Gedanken schon die Trophäe poliert. Und nun hat er verloren. Da kann auch seine Freundin Rhene kaum Trost spenden. Es hätte der erste Platz sein sollen.
Noch während der Siegerehrung betritt eine Gruppe Elche das Zelt. Es ist die persönliche Leibgarde des Waldkönigs. Der Hauptmann tritt vor: „Im Namen des Waldkönigs erkläre ich den Jahrmarkt mit sofortiger Wirkung für beendet! Die Sturmkugel wurde gestohlen!“ Sofort bricht große Unruhe unter den Zuschauern im großen Turnierzelt aus. Die Sturmkugel sagt das Wetter voraus. Manche sagen sogar, sie könne das Wetter steuern. Und wer das Wetter kontrolliert, der kontrolliert letztendlich auch die Tiere. Auch auf der anderen Seite des Zeltes wird es laut. Die Wachmannschaft der Keiler stürmt herein und sofort bezichtigen sich die Anführer der beiden Garden des Diebstahls. „Warum sollten wir die Kugel stehlen?“ poltert der Anführer der Keiler. „Wenn wir die Kugel haben wollten, dann würden wie sie uns einfach nehmen. Wir schleichen nicht herum und stehlen, wie der Fuchs!“ Das trifft Rif in seiner Ehre und er will seinen Namen verteidigen. Aber heute scheint nicht sein Tag zu sein und der Zug war so schlecht wie sein Letzter im Rätselfinale. Schnell haben sich die beiden Anführer auf ihn eingeschossen und ehe er es sich versieht ist er der Hauptverdächtige. Um seine Unschuld zu beweisen muss Rif nun selber den Dieb finden. Und damit er nichts Dummes anstellt, schicken sowohl Keiler als auch Elche einen Soldaten mit auf seine Reise. Als wäre das nicht schon schlimm genug, nehmen die Keiler auch Rhene als Garantie für Rifs Einsatz mit. Der muss sich jetzt ganz auf seine Schläue verlassen um das Rätsel der verschwundenen Sturmkugel zu lösen. Denn bei diesem Wettbewerb gibt es keine Silbermedaille für den zweiten Platz.
Es geht los
Noch bevor man in einer kurzen Einführungssequenz Rifs Niederlage und den Beginn der Story präsentiert bekommt, wird in einem Prolog beschrieben, warum nun Tiere die Welt bevölkern. Lange vor ihrer Zeit beherrschten die Menschen die Erde. Sie lehrten die Tiere den aufrechten Gang, die greifende Hand, den sprechenden Mund und den denkenden Geist. Wie genau das geschah, das bleibt dem Spieler ein Rätsel. Auch was mit den Menschen passierte wird nur zaghaft angedeutet. Aus unerklärtem Grund verschwanden sie eines Tages von der Erde und ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist Unbekannt. Während ein Erzähler über die Möglichkeit grübelt, dass sie zwischen den Sternen oder unter dem Ozean weiterleben, zeigt ein der Höhlenmalerei nachempfundenes Bild verängstigte Menschen, die vor etwas fliehen, dass verdächtig nach einer mikroskopierten Bakterie oder Ähnlichem aussieht.
Mit einem unguten Gefühl beginnt das Abenteuer, aber die beklemmende Stimmung ist schnell vergessen. Grüne Wiesen, dichte Wälder, klare Bäche, Baumhäuser und Zelte – so sieht die Welt unserer Erben aus und schlagartig wird einem bewusst, dass die Tiere die Welt um einiges besser im Griff haben als wir Menschen. Der Spieler übernimmt die Kontrolle von Rif unmittelbar nachdem Elche und Keiler das Rätselzelt mitsamt Fuchsdame verlassen haben. Die Steuerung ist, hier im Klassiktest kann man das ja so sagen, oldschool. Per Mausklick steuert man Rif durch die Gegend. Eeah und Okk, Elch und Keiler, folgen ihm automatisch auf Schritt und Tritt. Der Bildschirm ist traditionell in drei Teile geteilt. Der obere Teil zeigt den Spielausschnitt, darunter befindet sich die Aktionsleiste, welche die im Moment ausgewählte Aktion anzeigt. Der untere Teil des Bildschirms birgt die Aktionsverben, sowie ein grafisches Inventar. Das Optionsmenü wird durch einen Klick auf ein kleines Diskettensymbol in der Aktionsleiste aufgerufen. Hier kann man das Spiel speichern, laden, beenden oder Soundoptionen verändern. Nach etwa 30 Minuten Spielzeit fängt das Symbol an zu blinken, um den Spieler daran zu erinnern zwischen zu speichern.
Rif geht an die ihm gestellte Aufgabe wie ein geübter Kriminalist. Wenn vorbeigehende Tiere angesprochen werden, öffnet sich sogleich ein Dialogmenü, das dem Spieler verschiedene Fragen und/oder Antworten zur Auswahl stellt. Rechts und links vom Dialogmenü öffnen sich dabei zwei Fenster die Rifs Gesicht und das seines Dialogpartners in Großansicht zeigen. Je nach Gesprächsverlauf ändert sich die Mimik der Tiere und spiegelt so erstaunlich gut deren Gemütszustände dar. Wenn das Tier nicht ohnehin aus einem speziellen Grund besucht und befragt wird, ist Rifs Fokus meistens auf die Sturmkugel gerichtet. Er befragt die Tiere nach ihrem Wissen über das wertvolle Relikt, holt Meinungen über mögliche Verdächtige ein und fragt auch gerne mal nach dem Aufenthaltsort zur Tatzeit oder einem Alibi. Das ist zwar ein relativ forsches Vorgehen von Rif, spiegelt aber hervorragend die anfängliche Ahnungslosigkeit des Spielers dar. Was ist die Sturmkugel? Wie finde ich den Dieb? Durch systematisches Löchern der umstehenden und gehenden Tiere bekommt Rif seine erste Fährte.
Schlau wie ein Fuchs
Und so entwickelt sich die Spielmechanik nach Schema F des Adventureprinzips. Der Spieler erkundet seine Umgebung, spricht mit den Charakteren denen er begegnet, sammelt Gegenstände ein und löst kleinere und größere Rätsel, die entweder durch Kombination von Items, durch den Dialog mit anderen Tieren oder durch Minispiele wie etwa ein Puzzle zu bewältigen sind. In dieser Hinsicht ist 'Erben der Erde' sicherlich kein Fundus herausragenden Spieldesigns.
Worin sich Erben der Erde allerdings deutlich von seiner Konkurrenz unterscheidet ist das Ambiente. Die Tatsache, dass die Spielwelt nicht von Menschen sondern von Tieren mit menschlichen Eigenschaften bevölkert wird, eröffnet dem Spiel storytechnisch neuartige Möglichkeiten und macht zugleich alles und jeden interessanter. Die Gesinnung der Tiere basiert zumindest teilweise auf den ihnen in Fabeln und Mythen zugesprochenen Eigenschaften. Nehmen wir Scorry als Beispiel, die Ratte die Rif im Rätselwettbewerb besiegt. Scorry ist, wie der Rest seiner Artgenossen, extrem schlau. Die Ratten leben in einer Art Universität und haben sich ganz dem Studium verschrieben. Auch die Füchse sind schlau, Rif ist das beste Beispiel dafür. Aber ihnen haften auch negative Eigenschaften an, die wir ebenfalls aus Märchen oder Erzählungen kennen. Verschlagenheit ist eine davon und oft ist es eben der Fuchs, der die Ganz gestohlen hat. Die Keiler sind rohe, teilweise brutale Zeitgenossen, denen nichts wichtiger ist als ihr regelmäßiges Schlammbad. Hunde sind verspielte, verwöhnte Zeitgenossen und Katzen eher introvertierte Nomaden. Kurzum, es ist eine wahre Freude durch die Spielwelt von 'Erben der Erde' zu ziehen und auf immer neue Tiere zu treffen.
Der andere Aspekt der Geschichte ist das allmähliche Ergründen des im Titel genannten Erbes. So mysteriös und Gottähnlich wie im Titel die Rolle und das Verschwinden der Menschen erscheint, so klarer wird im Laufe des Abenteuers, das wir die Welt nicht freiwillig verließen. Rif findet immer neue Relikte die einen hastigen Aufbruch, eine Flucht, oder sogar ein plötzliches Ableben der Menschen andeuten, obwohl keine Leichen auftauchen. Was von den Menschen übrig blieb ist größtenteils vergessene Technologie, denn die Tiere leben auf dem technischen Stand des Mittelalters, ohne Elektrizität oder Gas. Andere bedrohliche Relikte aus der Zeit der Menschen sind Waffen und atomgetriebene Geräte und mit fortschreitender Spieldauer dämmert es uns, dass die Tiere vielleicht zurecht die Herrschaft der Erde übernommen haben.
Es grünt so grün
Dafür spricht auch der prächtige Zustand in der sich die Welt dem Spieler präsentiert. Dichte Wälder und grüne Wiesen wohin macht auch blickt. Klare blaue Bäche, malerische Sonnenuntergänge – keine Spur von Smog, Meeresverschmutzung oder saurem Regen. Wenn man so will, stellt 'Erben der Erde' den Idealzustand dar, den Bent und Fay in 'A new Beginning' gerne erreichen würde. Tja, hätte ihnen nur jemand verraten, dass Tiere eben manchmal die besseren Menschen sind. Die VGA Grafik bewegt sich ungefähr auf dem Niveau von 'Monkey Island 2', bietet eine schöne Palette, detaillierte Hintergründe und hervorragend animierte Figuren, denen je nach Rasse eine komplett andere Gestik Bewegung spendiert wurde. Obwohl schon in die Jahre gekommen, ist 'Erben der Erde' noch immer ein Spiel fürs Auge.
Die grafische Perspektive bietet vier verschieden Darstellungen die im Spiel situationsbedingt wechseln. Zwischen zwei entfernten Schauplätzen reist die Gemeinschaft auf einer Übersichtskarte. Ist man am gewünschten Punkt angekommen wechselt die Darstellung entweder in eine traditionelle 2D-Seitenansicht oder in eine isometrische Draufsicht welche gewählt wird wenn ein größeres Areal durchkämmt werden will. Oft sind so 2D-Räume und Schauplätze in einem größeren Areal miteinander verbunden. Die vierte Möglichkeit ist ein kleineres Grafikfenster, das sich im Bildschirm öffnet. Das Innere kleinerer Häuser oder Höhlen wird oft so dargestellt.
Musik und Sound sind überdurchschnittlich und passen meistens gut zum Geschehen. Die Klänge sind meist mittelalterlich und reichen vom munteren 7/8 Takt bis zu träumerisch sphärischen Klängen jedenfalls solange die Tiere unter sich sind. Etwaige Anzeichen von menschlicher Zivilisation werden dagegen mit mechanischer, metallischer Geräuschkulisse untermalt. Die CD-Version mit Sprachausgabe lag zum Test nicht vor.
Fährte Verloren
'Erben der Erde' wurde mit hohen Erwartungen veröffentlicht. Die englische Version kam zunächst für DOS und Macintosh heraus. Später folgte die deutsche Übersetzung auf DOS, Amiga 1200 und Commodores Katastrophenkonsole CD-32. Die Verkaufszahlen blieben allerdings hinter den Erwartungen zurück. Obwohl über die Gründe natürlich nur spekuliert werden kann, mag eine Ursache des ausbleibenden Erfolgs in der unvollendeten Story liegen, die den Gesamteindruck von 'Erben der Erde' zuweilen etwas trübt. Ursprünglich als Trilogie konzipiert, wurde die Story später eingedampft und auf einen Teil reduziert. Das hat zur Folge, dass viele interessante Nebencharaktere einen allzu kurzen Auftritt haben und diverse sekundäre Erzählstränge im Sand verlaufen. Das Spiel hat zwar einen ordentlichen Umfang, aber man merkt deutlich, wie viel mehr das Drehbuch eigentlich mit der Geschichte vorhatte.
Eine treue Fangemeinde hat Erben der Erde dennoch bekommen. Daran mag auch die Bestsellergames-Version beteiligt sein, die dem Spiel zwei Jahre nach Erstveröffentlichung noch einmal zu einer erweiterten Auflage verhalf. 2002 konnte sich einer der Gründungsmitglieder von A Dreamers Guild, Joe Pearce, die Rechte am Tierabenteuer für seine neue Firma Wyrmkeep Entertainment sichern und vertreibt das Spiel seitdem als Downloadversion für Windows, Linux und Mac sowie einige Smartphones. Angeblich soll der Erlös zur Finanzierung einer Fortsetzung dienen die vor langer Zeit angekündigt wurde. Man darf also noch hoffen. Auf der Wyrmkeep-Website wird außerdem ein Webcomic gepflegt, der von einer der Designerinnen des Spiels gezeichnet und vertextet wird und der als Fortsetzung zur Handlung des Spiels dient.
Leider bietet Wyrmkeep lediglich die Diskettenversion zum Download an. Auf die Sprachausgabe muss man deshalb verzichten. Das ist vor allen Dingen schade, weil der Preis mit 17 Dollar für ein altes Spiel doch relativ hoch angesetzt wurde. Wer die alte Version auf Diskette noch bei sich zu Hause herumstehen hat, der kann sie auf moderneren Betriebsystemen mit Hilfe von Programmen wie 'ScummVM' oder 'Dos Box' spielen.
'Erben der Erde – Die große Suche' ist ein gutes Grafikadventure, dass durch den innovativen Aspekt der anthropomorphen Tiere, eine gute Geschichte und solide Rätsel von Anfang bis Ende bei Laune hält. Die Gestaltung des Spiels ist mit viel Liebe zum Detail hervorragend geraten. Das reicht von der schönen Grafik und dem guten Sound bis zur toll gestalteten Anleitung, die den Ton des Spiels behält um die Mechanik zu erklären und mit Konzeptzeichnungen und Background-Info mehr Details zur Spielwelt liefert. An die Königsklasse der Adventures wie'LeChuck’s Revenge' oder 'Day of the Tentacle' kommt das Spiel allerdings nicht heran. Dafür bietet 'Die große Suche' einfach zu viele Lücken, die dem Spiel die Kohärenz nimmt und den Spieler auch dank fehlender Fortsetzung mit zu vielen Fragezeichen zurück lässt. Auch hätte man sich eine stärkere Entwicklung der Charaktere, vor allem die der Begleitpersonen Okk und Eeah und Rifs Freundin Rhene gewünscht. Mit einigen Abstrichen ist 'Erben der Erde' aber ein wirklich gelungenes Spiel, dass jeder der ein Faible für das Genre hat ausprobieren sollte.
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Erben der Erde: Die große Suche
- Entwickler
- The Dreamers Guild
- Publisher
- Softgold
- Release
- 1. Januar 1994
- Trailer
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6 Kommentare
Das war wirklich eines der Besten