„Großartige Spiele müssen nicht groß sein“ lautet der Wahlspruch des Wiener Indie-Entwicklers Mi'pu'mi – ein Anspruch, dem man natürlich auf den Zahn fühlen möchte. Mit der ersten Episode des vierteiligen Adventures 'The Lion's Song' legte das 25-köpfige Team ein ambitioniertes Projekt vor. Versprochen wird eine Geschichte über persönliche innere Konflikte und Kämpfe, über Ehrgeiz, über außergewöhnliches Talent, über zwischenmenschliche Beziehungen und über Inspiration. Wir haben die vier Episoden für Euch ausgiebig getestet und verraten Euch, ob die hohen Erwartungen erfüllt werden.

Von Liedern, Bildern und Mathematik
Vier Episoden, die jeweils an einem Bahnhof bzw. in einem Zug beginnen, drei Hauptcharaktere, die Suche nach Selbstfindung, Inspiration und Ruhm – das sind die Zutaten, aus denen das Wiener Indie-Studio ein facettenreiches Adventure geschaffen hat. Wir schlüpfen zunächst in die Haut der jungen Komponistin Wilma, die an ihrem neuesten Werk arbeitet und die dringend Inspiration braucht. Sie begibt sich dazu in eine abgelegene Berghütte, wo jedoch allerhand Ablenkungen, Entscheidungen und Albträume auf sie warten – nicht unbedingt förderlich für den kreativen Prozess. Nicht besser ergeht es dem Maler Franz, der die Facetten seiner Mitmenschen sehen und auf die Leinwand bannen kann. Dumm nur, dass seinen Bildern trotzdem das gewisse Etwas fehlt. Wie Wilma, muss auch er einen Weg finden, um zu wahrer Größe zu gelangen. Ob ihm – und Wilma – das gelingt, erfahren wir dabei erst am Ende der vierten Episode.
Die dritte Protagonistin, Emma, darf sich mit einem ganz anderen Problem herumschlagen: Sie ist eine brillante Mathematikerin, hat eine spannende Theorie entwickelt, stößt aber an ihre Grenzen. Die Professoren der Universität Wien weigern sich nämlich, ihr Gehör zu schenken. Schließlich ist sie eine Frau, was versteht sie schon von Mathematik? Die dritte Episode, in deren Mittelpunkt Emma steht, spricht dabei Themen wie Diskriminierung und Emanzipation an bzw. bereitet diese auf, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu drohen.
Ihr merkt es schon: Es ist nicht einfach, die Geschichte von 'The Lion's Song' zu beschreiben, ohne zu spoilern. Auch reicht es nicht aus, das Spiel nur einmal durchzuspielen, da einem viele Nuancen entgehen. Manche Handlungsstränge können eine völlig andere Wendung nehmen, je nachdem, wie man sich entscheidet, und ja, Entscheidungen haben hier tatsächlich Auswirkungen. Ein zweiter Durchgang offenbart dann auch, wie subtil die auf den ersten Blick so unterschiedlichen Geschichten miteinander verwoben sind.
Noch ein Wort zum Setting: Wir befinden uns im Österreich des frühen 20. Jahrhunderts; eine exakte Jahreszahl wird uns nicht vorgesetzt. Während die erste Episode in den Bergen spielt, bewegen wir uns in den beiden Folgeepisoden durch Wien. Episode 4 schließlich spielt sich fast ausschließlich in einem Zug ab, bricht aber in Form von Erzählungen aus und lässt uns teilweise bekannte Orte noch einmal besuchen oder stellt uns neue Orte vor, die für das Verständnis der Geschichte bzw. eines bestimmten Charakters wichtig sind.
Wie gut die Story gelungen ist, lässt sich kaum in Worte fassen (mir scheint, es fehlt auch mir an Inspiration...). Mi'pu'mi konzentrieren sich auf die narrative Struktur und erzählen Geschichten, die eigenständig und zusammenhängend zugleich sind, ohne dabei jemals unglaubwürdig oder überladen zu wirken. Im Gegenteil: Der Zusammenhang zwischen den vier Episoden ist sehr gut gelungen, wirkt natürlich und vollkommen logisch. Die gut geschriebenen Charaktere tragen die Geschichte dabei ebenso wie die Grafik und die Soundkulisse. Durch die unterschiedlichen Entscheidungen und ihre Auswirkungen ist der Wiederspielwert entsprechend hoch. Das schlägt sich auch in satten 63 Steam-Achievements nieder, die man beim ersten Durchgang nicht mal ansatzweise erreichen wird. Trophäenjager haben also noch einen Grund mehr, 'The Lion's Song' mindestens zweimal durchzuspielen.
Minimalistische Grafik, schöne Musik
Apropos hören: Sowohl die musikalische Kulisse als auch die Hintergrundgeräusche sind hervorragend gelungen und unterstreichen die Atmosphäre. In den Bergen bekommen wir Donner und Regen zu hören, auf dem Markt das Gemurmel der anwesenden Menschen, wir hören Vögel zwitschern, das Kratzen von Kreide auf einer Tafel, das Ticken einer Uhr, Applaus – die Bandbreite der Soundkulisse ist für ein Spiel, das gerade einmal vier Stunden Zeit in Anspruch nimmt, erstaunlich groß. Auch die Musik kann sich hören lassen, schwillt mal dramatisch an, schlägt dann wieder sanftere Töne an, passt sich aber immer der jeweiligen Situation an. Eine Sprachausgabe gibt es nicht; die zahlreichen Dialoge – derzeit auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Russisch – werden lediglich in Textform angezeigt, was aber nicht weiter stört.
Wir klicken uns durch Wien
Zurück zum Gameplay: Im Wesentlichen besteht es daraus, Dialoge weiterzuklicken, auszuwählen oder auf Personen bzw. Gegenstände in der näheren Umgebung zu klicken, um so entweder einen weiteren Dialog auszulösen oder eine Aufgabe zu meistern. So müssen wir Wilma von den Geräuschen in ihrer Umgebung ablenken, indem wir die z.B. die tickende Uhr anklicken oder einfach mal nach draußen gehen. Wir müssen Franz beim Malen helfen, indem wir seinen Modellen die richtigen Fragen stellen. Und für Emma dürfen wir mathematische Aufgaben lösen, die aber selbst für Leute wie mich, die von höherer Mathematik null Ahnung haben, leicht zu schaffen sind. Der Schwierigkeitsgrad ist relativ niedrig; die Machen stellen ganz klar die Geschichten in den Vordergrund. Dabei können wir uns mit Wilma kaum bewegen und verweilen größtenteils an einem Ort. Mit Franz wird die Sache dann schon etwas vielfältiger: Über eine Karte von Wien können wir zwischen Franz' Atelier und dem Salon von Gustav Klimt (ja, wir treffen Klimt!) sowie dem Markt und dem oben erwähnten Kaffeehaus wechseln, wobei die beiden zuletzt genannten Orte nur dann auf der Karte auftauchen, wenn sie auch für die Handlung relevant sind. Ähnlich verhält es sich bei Emma: Zentral für ihre Geschichte sind das Kaffeehaus, ihre Wohnung und die Universitätsbibliothek. Bei Emma kommt noch ein weiterer Faktor hinzu, der in die Karte integriert wurde und uns einige Laufwege spart: Da sich Emma verkleiden muss, um in die illustre Runde der Herren Mathematiker eingelassen zu werden, können wir über eine schön gestaltete Schaltfläche direkt auf der Stadtkarte den Kleiderwechsel veranlassen, ohne zuerst in Emmas Wohnung zu gehen, dort die gewünschte Kleidung zu suchen und dann wieder zum Stadtplan zurückzukehren. So sparen wir Zeit, und die Idee, den Kleidertausch in die Übersichtskarte zu integrieren, hat was.

Hatte mich die erste Episode von 'The Lion's Song' im Vorjahr noch etwas ratlos zurückgelassen, so ergibt sich jetzt, nach zweimaligem Durchspielen aller vier Episoden, ein rundes Bild. Das Versprechen, offene Fragen aus Episode 1 zu beantworten, wurde ebenso eingelöst wie die Ankündigung, alle Episoden miteinander zu verknüpfen. Die umfangreiche Schlusssequenz lässt keine Fragen offen, bettet die individuellen Geschichten in die tatsächliche Historie ein und lässt das Spiel so sehr realistisch wirken. Über eine im Hauptmenü abrufbare Galerie der Verknüpfungen kann man sich noch einmal im Detail ansehen, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen und welche Überschneidungen es gibt – eine schöne Idee, wie ich finde. Die ungewöhnliche, minimalistische Grafik funktioniert in Kombination mit der stimmungsvollen Musik und der ausgezeichneten Soundkulisse extrem gut, die Atmosphäre ist in allen Episoden geradezu greifbar und den jeweiligen Geschichten angepasst. Es empfiehlt sich aufgrund der Vielschichtigkeit des Spiels, 'The Lion's Song' mindestens zweimal durchzuspielen, wenn nicht öfter. Zwar bleiben bestimmte Ergebnisse gleich, manches ändert sich aber je nach gewählter Dialogoption dramatisch. Der Wiederspielwert ist entsprechend hoch, die Spieldauer mit vier Stunden gerade richtig für die erzählten Storys.
-
The Lion's Song
- Entwickler
- Mipumi Games
- Publisher
- Mipumi Games
- Release
- Komplette Staffel: 13.07.17
- Auszeichnungen
- Adventure Corner Award
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://thelionssong.tumblr.com/
- Art
-
Independent
- Sprachen
-
- Systeme
-
- Stichwörter
- The Lion's Song im Humble Store kaufen (Affiliate-Link)
- The Lion's Song im Epic Store kaufen (Affiliate-Link)
4 Kommentare
Bitte den Steam-Link ändern, der geht nämlich nicht mehr.