Before Your Eyes - Review

Im Jenseits: Die Lebensgeschichte endet und beginnt

Zuerst heißt es blinzeln: Wir kalibrieren die Blinzel-Mechanik – sofern wir sie nutzen möchten. Dann geht es direkt ins Jenseits, wo uns ein vernarbter Wolf als Fährmann zur Torwächterin bringen soll: Sie wacht über das Jenseits. Damit sie uns hineinlässt, müssen wir aber eine würdige Lebensgeschichte erzählen. Leider fehlen unserem Fährmann die Worte für großartige Geschichten. Deswegen fragt er uns, ob wir ihm die Geschichte erzählen. Wir haben aber keinen Mund, weshalb wir unsere Erinnerung vorspielen. Vor unseren Augen spielen sich Sequenzen von unserem Leben bis ans Ende ab. Wir musizieren, spielen mit einem Boot in der Badewanne und malen. Schnell wird klar, dass wir hochtalentiert sind. Die kleine Familie aus einer gescheiterten Komponistin, einem Professor und dem Wunderkind spielt sich aus der Ich-Perspektive ab. Wir entscheiden, dass wir uns an das Leben noch einmal erinnern. Wie kam es zum viel zu frühen Tod des jungen Benny Brynn?

Blinzeln zum Vorankommen

Das Gimmick im Spiel ist die eingebaute Blinzel-Mechanik, die per Webcam funktioniert. Wer keine hat, kann das auch per Mausklick simulieren. Dadurch geht aber eine interessante Ebene im Spiel verloren. Wir interagieren durch Blinzeln: Wir schießen Fotos durch Blinzeln oder leuchten die teilweise dunklen Erinnerungen weiter aus, um mehr zu erfahren. Es sind nämlich Erinnerungsfragmente. So genau erinnern wir uns nicht mehr. Genau das reflektiert die Mechanik super. Umso frustrierender, wenn man sich dabei ertappt, doch zu blinzeln und dann – bei eingeblendetem Metronom – die Erinnerung vorgespult wird und wir die Erinnerung eben nicht mehr ganz nachempfinden konnte. Damit spielt 'Before Your Eyes' immer wieder und das macht die eineinhalb bis zwei Stunden Spielzeit auch einzigartig. Man muss sich konzentrieren, um die Geschichte in allen Details zu erleben. Ohne die Details funktioniert sie aber trotzdem hervorragend, denn Erinnerungen sind nun mal löchrig und genau auf das will das Spiel auch hinaus. Spannend ist auch, dass an ausgewählten Stellen Konzentration oder Nachdenken durch längeres Augenschließen simuliert wird. Das hat man so in Spielen noch nicht erkannt, dass man erstmal die Augen vor dem Spiel schließen muss, um weiterzukommen.

Rätsel sucht man vergeblich. Das Spiel arbeitet eher mit wenigen Entscheidungen und wenigen interessanten Spielmechaniken. Dabei erreicht es zwar nicht den Einfallsreichtum und die Metaphorik eines 'What Remains of Edith Finch', aber dass nur der Gedanke an dieses herausragende Spiel kommt, zeigt, wie gut das Spiel in den besseren Momenten funktioniert. Es bleibt bis zum Schluss abwechslungsreich, aber für jene, die jedes Detail der Spielwelt erfahren möchten, ohne trockene Augen zu bekommen, empfiehlt es sich bei einem zweiten Durchlauf die Blinzel-Mechanik abzuschalten. Dann hat man den Zeitdruck nicht mehr. Der macht aber das Spiel auch ein wenig aus. So bleibt in beiden Varianten an manchen Stellen ein leicht unbefriedigendes Spielgefühl.

Eindrucksvolle Kurzgeschichte

In 'Before Your Eyes' geht es darum, dass auch alltägliche Geschichten schöne Geschichten sein können, obwohl sie keine großartigen schriftstellerischen Kniffe verwenden. Es geht aber nicht nur darum, sondern vielmehr um eine schnörkellose Geschichte einer Familie, wie sie tatsächlich passieren kann. Grafisch ist es bewusst krude, hat aber einen sehr angenehmen, kindlichen Stil. Immerhin sind es die Erinnerungen des jungen, früh verstorbenen Benny. Die Optik spielt durchaus mit Metaphern und ausdrucksstarken Szenen. Die Story selbst wartet mit einem zentralen Twist auf, den man zwar erahnen kann, der aber in der Konsequenz der Ausführung samt den begleitenden Emotionen dann doch beeindruckt. Es ist aber eher wie eine richtig gute Kurzgeschichte. Man spielt es, nickt anerkennend und muss nach dem Ende ein wenig nachdenken. Das Adventure gibt es mit englischer Sprachausgabe, die hervorragend vertont ist, und deutschen Untertiteln. Insgesamt ist es keine unglaublich leichte Kost, aber geht schon aufgrund der Länge zwischendurch statt einem Spielfilm. Da schlägt sich 'Before Your Eyes' ganz gut. Man fragt sich nur, ob mit der ordentlichen Blinzel-Mechanik nicht noch mehr gehen könnte.