Mit seinem Gerichtsdrama 'Bohemian Killing' verspricht das Ein-Mann-Studio The Moonwalls ein nichtlineares Spielerlebnis mit hohem Wiederspielwert. Beinahe endlos sollen die Möglichkeiten sein, die dem Spieler offen stehen, um sich vom Vorwurf des kaltblütigen Mordes reinzuwaschen. Ob das Spiel, das von einem Anwalt entwickelt wurde, hält, was es verspricht, erfahrt ihr wie immer in unserem Test.

Ein Mörder? Ich? Niemals!
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Gestatten: Marie Capet, Mordopfer. |
Wir schreiben das Jahr 1894. Alfred Ethon, ein junger Erfinder, steht vor Gericht. Er wird beschuldigt, Marie Capet kaltblütig ermordet zu haben – ein Umstand, der nicht von der Hand zu weisen ist, ist es doch die erste Handlung des Spielers, eben diesen Mord in Alfreds Haut zu begehen. In der Folge muss man Beweise sammeln, die wider besseres Wissen die eigene Unschuld belegen sollen. Die Möglichkeiten sind dabei auf den ersten Blick zahlreich: Man könne, so der Anspruch des Spiels, lügen, andere Leute beschuldigen, Beweise und Zeugen manipulieren, auf schuldig plädieren oder vorgeben, verrückt zu sein. Das klingt zunächst sehr spannend, zumal das Spiel in Echtzeit abläuft, d.h. während man in den Flashbacks Beweise sammelt, muss man immer ein Auge auf die Uhr und den vom Staatsanwalt rekonstruierten zeitlichen Ablauf des Mordes haben.
Idealerweise kann man sich so z.B. ein Alibi verschaffen. Oder man kann belegen, dass ein Nachbar, der einen mit blutverschmierter Kleidung gesehen haben will, gelogen hat, weil er ein Rassist ist. Man kann auch Gründe dafür finden, warum die Kleidung blutverschmiert ist – etwa, weil man in einer Bar in eine Schlägerei geraten ist oder weil man sich beim Rasieren geschnitten hat. Man kann auch freimütig zugeben, den Mord begangen zu haben und sich auf den Einfluss von Drogen rausreden.
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Wenn man Pech hat, endet man nach dem Prozess hier. |
Insgesamt gibt es acht verschiedene Enden, die von einem Freispruch über mehrjährige Freiheitsstrafen bis zur Hinrichtung auf der Guillotine reichen. Dabei ist es gar nicht so einfach, ein „gutes“ Ende zu erlangen – in meinen ersten vier Durchgängen wurde Alfred jedes Mal hingerichtet. Erst beim fünften Durchgang ist es mir gelungen, zumindest eine lebenslange Haftstrafe herauszuschinden, und beim achten Durchgang konnte ich das Gericht davon überzeugen, mich nur für zehn Jahre hinter schwedische Gardinen zu bringen.
Die Story dreht sich um mehr als „nur“ den Mord. Rassismus spielt eine wichtige Rolle – Alfred stammt von Zigeunern ab -, aber auch Sozialismus sowie der Niedergang des Adels sind durchgehende Themen. Dieser Background ist durchaus interessant und für die Ereignisse im Spiel relevant, ebenso Alfreds Hintergrundgeschichte: Aus armen Verhältnissen stammend, profitiert er von den sozialen Umwälzungen und seinem erfinderischen Geist. Er schafft den gesellschaftlichen Aufstieg und wird dank seines technischen Geschicks reich, was nicht alle Zeitgenossen gerne sehen: Alfred wird als neureicher Emporkömmling oder Zigeunerabschaum wahrgenommen, was sich direkt auf seine Einstellung zu anderen Menschen auswirkt. Diese lässt ihn bisweilen arrogant, misanthropisch und nicht immer sympathisch erscheinen. Trotzdem möchte man ihm helfen, seine Haut zu retten.
Paris im Oktober...
'Bohemian Killing' gleicht bisweilen einem Walking Simulator. Gespielt wird in der First-Person-Perspektive. Die Schauplätze sind... nun ja, überschaubar. Da gibt es einerseits den Gerichtssaal, in den wir immer dann katapuliert werden, wenn neue Beweise auftauchen. Andererseits bewegen wir uns durch einen sehr kleinen Teil des Pariser Stadtteils Montmartre, wobei wir hier sehr eingeschränkt sind. Wir können neben unserer Wohnung die eines Nachbarn aufsuchen, dazu eine Kneipe (in der man auch Prügel kassieren kann) sowie ein Hotel in der Nähe und sinnloserweise unseren privaten Keller, wo wir aber keine Handlungen setzen können. Dem Entwickler zufolge – er ist in den Steam-Foren zum Spiel sehr aktiv – sollte hier ursprünglich Content verfügbar sein, der dann doch gekippt wurde. Allerdings soll die Rolle des Kellers in einem der nächsten Updates aufgewertet werden. Ich bin gespannt. Zwischen den Verhandlungstagen (sofern man es schafft, mehrere zu bekommen) bzw. unmittelbar vor der Urteilsverkündigung befindet man sich außerdem in einer Gefängniszelle.
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Der Richter hat eine Menge Fragen an Alfred. |
Die Gestaltung der Umgebung ist dabei gut gelungen, gerade, wenn man sich vor Augen hält, dass wir es hier mit einem Spiel zu tun haben, das über den Zeitraum von zweieinhalb Jahren von einer einzigen Person konzipiert und entwickelt wurde. Bisweilen stört Kantenflimmern den ansonsten guten Eindruck der etwas statischen Grafik, ansonsten gibt’s hier wenig zu meckern. Gut, die Charaktere, so man sie denn zu Gesicht bekommt, hätten noch etwas mehr Mimik und Gestik vertragen, aber bei einem Indie-Game kann man diesbezüglich schon mal ein Auge zudrücken. Beim Richter, den wir während des Spiels immer wieder zu Gesicht bekommen und der unser Hauptansprechpartner ist, wurde darauf geachtet, Lippensynchronität so gut wie möglich zu gewährleisten.
Was hervorragend gelungen ist, sind Musik und Sprachausgabe. Die Musik schwillt gerne mal dramatisch an, kann auch hektisch werden und wird von Akkordeon, Geigen sowie Klavier dominiert. Dazu gesellen sich wenige, aber überlegt eingesetzte Hintergrundgeräusche wie das Läuten einer Glocke, Hundegebell oder das Geräusch einer sich schließenden Tür. Die Lokalisation – komplett auf Englisch, englische Untertitel sind über das Optionsmenü zuschaltbar – ist ebenfalls gelungen. Stéphane Cornicard schafft es, Hauptfigur Alfred trotz allem etwas Sympathisches zu verleihen, und das ausschließlich durch seine sehr ruhige Stimme. Selten wird Alfred laut, immer bleibt er vor Gericht höflich. Lediglich, wenn es um seine Abstammung und den Rassismus geht, dem er ständig ausgesetzt ist, hört man Zorn und auch Verachtung in seiner Stimme. Das sind dann auch die Momente, in denen unser "Held" äußerst ungut und arrogant rüberkommt. Ruft man sich seinen Hintergrund in Erinnerung, kann man mit dieser Arroganz aber recht gut umgehen. Auch die übrigen Figuren – Richter, Staatsanwalt und Verteidiger – wurden gut vertont. Leider beschränkt sich die Sprachausgabe auf diese vier Personen. Wir können uns weder direkt mit dem späteren Mordopfer unterhalten noch mit unserem Nachbarn. Die Dialoge laufen offscreen ab, Alfred rekapituliert dann, was gesagt wurde – und das müssen wir ihm wohl oder übel glauben
Wie beweist man seine Unschuld?
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Die Gerichtsakte kann uns sehr nützlich sein. |
Das Gameplay von 'Bohemian Killing' ist auf den ersten Blick relativ simpel: Im Gerichtssaal selbst kann man nicht agieren, lediglich bereits gehörte Dialoge mit E überspringen, was gerade bei einem erneuten Durchgang sehr praktisch ist – wer will sich schon jedes Mal das relativ lange Eröffnungsstatement des Staatsanwalts anhören? Sobald wir uns im Flashback befinden, können wir Alfred mit WASD bewegen. Ein Druck auf die linke Shift-Taste lässt ihn laufen. Die Maus kommt dann zum Einsatz, wenn ein Objekt oder eine Person angeklickt werden muss, wobei Objekte, die man ansehen, aufnehmen oder öffnen kann, meist rot umrandet sind. Beweise, die wir finden, landen automatisch in der Gerichtsakte. Diese lässt sich mit der Tabulatortaste öffnen und enthält sowohl alle Vorwürfe der Anklage als auch sämtliche Beweise, die wir aufgetrieben haben.
Anfangs muss man sich entscheiden, ob man Hilfe von seinem Anwalt möchte oder nicht – die Auswahl erfolgt durch Druck auf die Taste Y für „Yes“ bzw. N für „No“. Entscheidet man sich für die erste Option, kann man über die Taste Q sowohl die zeitliche Abfolge des Verbrechens abrufen, als auch Hinweise des Anwalts zu einzelnen Zeitabschnitten. Entscheidet man sich gegen diese Hilfestellung, ist man auf sich alleine gestellt, was das Spiel etwas schwieriger macht. Nach mehreren Durchläufen sollte man damit aber kein Problem haben.
Eingeschränkt ist die Interaktion mit anderen Charakteren. So können wir unseren Nachbarn nicht dauernd mit Fragen löchern. Ob er überhaupt für eine Konversation zur Verfügung steht, richtet sich nach den Aktionen, die wir vorher gesetzt haben. „Konversation“ ist dabei allerdings stark übertrieben: Ein Klick auf den guten Mann reicht, und Alfred rekapituliert, was gesagt wurde. Dass es keine Dialogoptionen gibt, durch die man das Geschehen stärker steuern kann, fand ich persönlich sehr schade. Das hätte dem Spiel noch etwas mehr Tiefe verliehen. Auch hinsichtlich der Möglichkeiten, seine Unschuld zu beweisen, zu manipulieren oder zu lügen wäre noch mehr drin gewesen.
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Manchmal muss man die Zeit überbrücken, z.B. indem man was kocht. |
Wichtig ist in jedem Fall, sich an der zeitlichen Rekonstruktion der Ereignisse zu orientieren und genau darauf zu achten, welche Aktion man wann ausführt. Nimmt man beispielsweise die Tatwaffe schon zu Beginn mit, wird das später Auswirkungen haben. Lässt man sich in der Kneipe gegenüber gleich am Anfang verprügeln und später ein zweites Mal, um so eine Erklärung für die blutige Kleidung zu haben, dann wirft das Fragen auf und lässt uns obendrein unglaubwürdig erscheinen. Die einzelnen Aktionen wollen also wohlüberlegt sein. Sie sind das Spielelement, das uns erlaubt, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Es kann auch vorkommen, dass wir etwas Zeit überbrücken müssen, damit unsere Version der Dinge mit dem zeitlichen Ablauf der Anklage übereinstimmt. Zeit wird überbrückt, indem man Zeitung liest, kocht oder an einer Erfindung arbeitet. Wie viel Zeit man so überspringen kann, wird angezeigt, wenn man mit der Maus z.B. über eine Zeitung oder den Herd in der eigenen Küche fährt. Das Gameplay hat sich im Verlauf meiner bisher acht Durchgänge als deutlich komplexer erwiesen, als es auf den ersten Blick erscheint. Selbst Kleinigkeiten wirken sich auf den Verlauf des Prozesses und damit auf das Urteil aus.
Ein Inventar im herkömmlichen Sinn ist nicht vorhanden. Beweise landen wie bereits beschrieben in der Gerichtsakte. Das einzige Objekt, das man aktiv benutzen kann, ist die Mordwaffe. Sie wird mit Druck auf die Zifferntaste 1 gezogen bzw. weggesteckt, vorausgesetzt, man entscheidet sich dafür, Alfred den Mord im Flashback begehen zu lassen. Gespielt wird im Übrigen ausschließlich mit Tastatur und Maus, einen Gamepad-Support gibt es nicht.
'Bohemian Killing' glänzt in erster Linie mit einer unkonventionellen und größtenteils auch sehr gut umgesetzten Idee. Das Gameplay ist auf den ersten Blick relativ schlicht gehalten, entpuppt sich aber gerade nach mehreren Durchgängen als durchaus ausgeklügelt. Von den Aktionen, die wir in der Haut Alfreds setzen, hängt letztendlich das Urteil ab, wobei acht verschiedene Enden einen hohen Wiederspielwert garantieren. Gleichzeitig wird der spielerische Ehrgeiz entfacht, diese Enden (und die damit verbundenen Achievements) freizuschalten. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Möglichkeiten gewünscht, direkter in das Geschehen einzugreifen. Speziell Dialogoptionen haben mir gefehlt. Auch wäre eine Möglichkeit nett gewesen, die Briefe, die man im Gefängnis erhält, vor Gericht zu verwenden. Teilweise fand ich das Spiel daher auch etwas unlogisch. So geht der Staatsanwalt in seinem Abschlussplädoyer überhaupt nicht auf die Aussagen des Angeklagten ein, sondern bezichtigt ihn selbst dann der Lüge, wenn er den Mord gestanden hat. Das ist ein störender und unnötiger Designfehler. Auch die versprochene Steampunk-Atmosphäre hat mir gefehlt. Abgesehen davon macht 'Bohemian Killing' wirklich Spaß. Die Spieldauer variiert je nach den Aktionen, die man setzt und reicht von ca. 20 Minuten bis zu zwei Stunden pro Durchgang.
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Bohemian Killing
- Entwickler
- The Moonwalls
- Publisher
- The Moonwalls
- Release
- 21. Juli 2016
- Spielzeit
- 2 Stunden
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://www.bohemiankilling.com
- Art
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Crowdfunding Independent
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
- Bohemian Killing im Humble Store kaufen (Affiliate-Link)