Ein Virus aus Asien der für Angst sorgt? In Corona-Zeiten ein vertrautes Thema. 'The Complex' von Wales Interactive wurde schon vor einem Jahr angekündigt, als kaum jemand mit einer Pandemie rechnen konnte. Die Parallelen zu unserer Gegenwart sind streng genommen aber recht oberflächlicher Natur, denn die Story hat einen anderen Fokus. An Gefahren mangelt es im FMV-Thriller trotzdem nicht.
Virus-Alarm in London
Im totalitären asiatischen Staat Kindar haben es Amy Tennant und Rees Wakefield zunächst mit den Folgen eines chemischen Angriffs zu tun. Durch Nanomedizin hoffen die beiden Wissenschaftler auf Heilung der betroffenen Personen. Jedoch erweist sich der Aufenthalt als eine extreme Belastungsprobe, der am Ende nur die junge Frau gewachsen ist. Im ungünstigsten Moment lässt sie ihr Kollege im Stich bei einer schweren Entscheidung, weshalb sich ihre Wege trennen.
Fünf Jahre später, ist Dr. Tennant in einem hochmodernen Forschungskomplex in London tätig. Dank ihrer Erfahrungen in Asien gilt die Wissenschaftlerin längst als führende Expertin im Gebiet der Nanozellentechnologie. Ihre Expertise ist dringend gefragt, als jemand in einem Londoner U-Bahnwagon heftige Virus-Symptome zeigt und zusammenbricht. Zur Untersuchung der betroffenen Person im Labor wird ihr ausgerechnet Wakefield als Assistent zur Seite gestellt. Ein Wiedersehen wider Willen, das für beide schwierig ist. Es kommt noch schlimmer, da das Sicherheitssystem eine Bedrohung registriert und alles absperren lässt. Das tödliche Virus ist selbstverständlich nicht die einzige Gefahr.Passable Thriller-Kost
Lynn Renee Maxcy ist die Autorin von 'The Complex'. Sie schafft es zumindest, eine konventionelle Thriller-Story nett und kurzweilig zu verpacken. Mindestens das war zu erwarten, immerhin zählt sie zum Autorenteam der dystopischen MGM-Drama-Serie 'The Handmaid's Tale'. An deren hohes narratives Niveau reicht das Spiel aber keineswegs heran, zu viel sollte man sich also nicht davon erhoffen.
Es ist schade, dass die persönlichen Konflikte im FMV-Abenteuer nach vielversprechendem Beginn zu sehr in den Hintergrund rücken. Auf dieser Ebene hätte man mehr herausholen können. Womöglich wären die Entscheidungsmöglichkeiten dann verzwickter gewesen. Statt zwischenmenschlicher Komplexität bekommt man es in 'The Complex' vorwiegend mit den typischen Gegenspielern und Problemen zu tun. Und die leidige Frage, ob man bereit ist, ein Leben für viele zu opfern, wurde schon zu oft überall durchgekaut, um emotional noch vor ein Dilemma zu stellen.
Hinsichtlich der filmischen Umsetzung wird sehr solide Kost geboten, die mit durchschnittlichen britischen TV-Produktionen problemlos mithalten kann. Die darstellerische Leistung geht in Ordnung (ohne zu glänzen) und die Rollen wurden überwiegend professionell besetzt. Hauptdarstellerin Michelle Mylett (Amy) ist abseits von zahlreichen B-Movies z.B. seit Jahren in der kanadischen Sitcom 'Letterkenny' zu sehen. Al Weaver (Rees) zählt u.a. zu den Hauptdarstellern der britischen Kriminalserie 'Grantchester'. Nebendarstellerin Kate Dickie hat es neben kleineren Spielfilmen sogar in den Kinofilm 'Prometheus' geschafft und in ein paar Episoden von 'Game of Thrones' mitgewirkt. Die Sprachausgabe ist übrigens in Englisch, dafür sind deutsche Untertitel bei Bedarf verfügbar.Minimalistisches FMV-Gameplay das ruhig mutiger hätte sein können
Das schlichte Gameplay des FMV-Thrillers setzt ausschließlich auf Entscheidungen (z.B. wen lass ich überleben, lindere ich Schmerz mit Morphium, löse ich ein Problem lieber mit Gewalt, und so weiter). Nach dem ersten Durchgang (mit schätzungsweise etwas über zwei Stunden Spielzeit) hat man etwa die Hälfte aller Szenen erlebt und es gibt neun verschiedene Enden. Gespeichert wird automatisch, wobei die Speicherpunkte nicht immer klar ersichtlich sind. Leider wird nicht nach jeder Entscheidung sofort gespeichert.
Jede Wahl hat direkte Auswirkungen auf das jederzeit abrufbare Persönlichkeitsstatus der Spielfigur (mit Werten für Intelligenz, Mut, Empfindlichkeit, Neugierde und Ehrlichkeit), sowie ihre Beziehung zu den anderen Akteuren. Beziehungswerte wirken sich teilweise automatisch auf Aktionen der Charaktere aus und beeinflussen den Verlauf der Geschichte. Bei einem positiven Wert reagieren die Charaktere von sich aus hilfsbereit. Ist das Verhältnis negativ, kann das in die entgegengesetzte Richtung gehen.
Eigentlich kein schlechter Ansatz (es gibt weniger Unerbrechungen), jedoch in der Praxis nicht immer durchdacht: Teilweise genügen selbst leicht positive Werte, um eine ausgesprochen positive Reaktion zu triggern. Insbesondere bei einem Annäherungsversuch mutet das sonderbar an. Zudem gibt es eine Situation, in der die Protagonistin die Schutzmaske in Gegenwart der infizierten Person freiwillig abnimmt. Vereinzelt wäre es somit klüger gewesen, dem Spieler selbst die Wahl zu lassen.
Den Machern von 'The Complex' hätte es nicht geschadet, zwischendurch andere interaktive Elemente zu probieren. Das müssen nicht zwangsläufig Rätsel sein (die ebenso denkbar gewesen wären). Warum nicht ab und zu die Möglichkeit bieten, sich in Teilen der Umgebung kurz umzusehen, oder relevante Objekte zu betrachten? Dadurch hätte man u.a. die Fluchtwege untersuchen und eine gefühlt weniger willkürliche Entscheidung treffen können. Spielerisch war z.B. das FMV-Drama 'The Bunker' immersiver, obgleich selbst dort nicht alles ideal umgesetzt wurde. Gleiches gilt übrigens für 'Erica', das immerhin versucht hat, die Möglichkeiten des Controllers auszureizen.
Die filmische Umsetzung von 'The Complex' kann sich sehen lassen. Obendrein gibt es einige Verzweigungen und nach dem ersten Durchgang hat man erst die Hälfte aller Szenen gesehen. Ob das Grund genug ist, es mehrmals durchspielen zu wollen, das hängt sicherlich auch vom Spielertyp ab. Ich persönlich hatte hinterher keine offenen Fragen und revidiere generell nur ungern meine zuvor getroffenen Entscheidungen. Zugleich ist es schade, dass das Gameplay so limitiert bleibt. In einigen Momenten wünscht man sich vergeblich eine Entscheidungsmöglichkeit und die zwischenmenschlichen Konflikte hätten die Macher mehr ausreizen können. Nach gutem Beginn wird die Story leider immer banaler. Als Film würde es dadurch nicht überzeugen können. Als FMV bietet 'The Complex' trotzdem sehr passable Unterhaltung und wer das Genre zu schätzen weiß, der kann schon einen Blick riskieren.
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The Complex
- Entwickler
- Wales Interactive
- Publisher
- Wales Interactive
- Release
- 30. März 2020
- Spielzeit
- 2-3 Stunden
- Webseite
- https://www.walesinteractive.com/thecomplex
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
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