'Road 96' ist ein facettenreiches Roadmovie-Adventure vom französischen Studio DigixArt ('11-11: Memories Retold') das im August für Windows PC und Switch veröffentlicht wurde - mit deutschen Untertiteln. Darin steuern wir nach der Reihe mehrere Jugendliche, die unabhängig voneinander einem repressiven Regime entfliehen wollen. Die Story ist sehr verzweigt mit vielen Entscheidungsmöglichkeiten, die den Verlauf der Reise prägen. Im wahren Fokus stehen jedoch die Nebencharaktere und das Setting. Mehr dazu im Test.

Kinder und Jugendliche auf der Flucht
Willkommen in Petria. 1996 stehen dort Wahlen bevor, genau 10 Jahre nach eben jener Katastrophe, die die das Land zu tiefst geprägt hat. Im Zuge eines Anschlags der Rebellen (die schwarze Brigade) kam damals ein Berg zum Einsturz und begrub viele Opfer unter den Trümmern. Seither führt der Diktator Tyrak ein eisernes Regime der Unterdrückung. Will man den Umfragen glauben, unterstützt ihn zu Beginn noch der Großteil der Bevölkerung und die Medien tanzen ohnehin nach seiner Pfeife.

Gelingt/scheitert der Grenzübertritt, wechseln wir zur nächsten Spielfigur und versuchen von einem anderen Ausgangspunkt aus erneut ans Ziel zu gelangen. Das Alter und Geschlecht der Akteure variiert. Am Weg zur streng bewachten Grenze treffen wir üblicherweise stets die gleichen paar Nebencharaktere, aber nie öfter als einmal pro Spielfigur. Durch manche Handlungen nehmen wir sogar Einfluss auf die globale politische Lage und am Ende des 3D-Adventures kommt sozusagen die Abrechnung bei der Wahl. Inspiration für diese fiktiven Welt kommt teils von diversen realen Diktaturen der Gegenwart.
Prozedural generierte Landkarte
Bemerkenswert ist, dass die Landkarte von Road 96 keinem festen Muster folgt und von Spiel zu Spiel variiert. Welchen Schauplatz wir wann treffen ist nicht fix vorgegeben, der Weg zum Ziel vielmehr per Zufall kreiert. Damit geht einher, dass die Orte und die unterhaltsam geschriebenen Episoden die damit verbunden sind, typischerweise nicht an der gleichen Stelle zu finden sind. Bestimmte Gespräche können an unterschiedlichen Orten stattfinden.

Diese Herangehensweise funktioniert deshalb gut, da die meisten Begegnungen nicht zeitlich gebunden sind und problemlos für sich stehen können. Im Endeffekt sind es lauter kleine spaßig geschriebene Episoden, die unterwegs auf uns warten. Ist eine Episode vorbei, suchen wir die nächste Reisegelegenheit, wo es unterwegs eine gemütliche Unterhaltung geben, oder dramatisch hergehen kann. Noch dazu trifft jede Spielfigur die diversen Nebencharaktere nur einmal. Wir lernen sie sozusagen immer neu kennen. Jedes Mal erfahren wir mehr über sie und verstehen dadurch teilweise sogar die Politik und Geschichte des Landes ein bisschen besser.
Auf der Reise bietet es sich an, immer wieder Fragen zu stellen um Tipps zum Überqueren an der Grenze zu bekommen, oder etwa zum Überleben. Je nachdem welche Informationen wir bis zum Erreichen der Road 96 sammeln konnten, ändern sich unsere Optionen beim Grenzübertritt. Auch das Alter kann eine Rolle spielen, denn ab einem gewissen Alter kann man um eine Arbeitserlaubnis ansuchen, was mit einem Test bei der Behörde verbunden ist. Jeden Weg kann man nur einmal gehen, denn die Regierung verschärft hinterher immer sofort die Kontrollen.
Ein angenehmer Mix aus Drama, Road Movie und Humor
An witzigen Momenten mangelt es Road 96 keineswegs, doch die Stimmung kann schnell auch ins Bedrohliche schwenken. Etwa wenn bei einer Taxifahrt plötzlich Schreie aus dem Kofferraum ertönen und der bedrohlich seltsame Fahrer uns fragt, ob wir etwas gesagt haben. Oder ein Tankwart droht uns plötzlich damit uns zu verpfeifen und zwingt uns dazu für ihn zu arbeiten. Dabei tanken wir ein Auto, während die Polizei einen Stop einlegt und Fragen stellt.

Neben dem kurzfristigen Ziel (die Grenze zu überschreiten), ist stets zu bedenken, dass einige Aktionen sich auf das Ende der Geschichte auswirken können und somit die Zukunft des Landes mitprägen. Dadurch gewinnen manche Entscheidungen zusätzlich an Brisanz: opfert man eine Spielfigur für das Allgemeinwohl? Will man die Rebellion schwächen, oder die Politik? Wer ein optimales Ende möchte, muss also das größere Ganze im Blick behalten.
Verzweigungen
Das sind nicht die einzigen Auswirkungen die zur Auswahl stehen sind. Neben der prozeduralen Umgebung überrascht das Roadmovie-Abenteuer durch die zahlreiche Reisemöglichkeiten unterwegs. Wer Geld hat, kann zwischendurch auch den Bus oder das Taxi nehmen. Wer knapp bei Kasse ist, geht eben zu Fuß oder reist per Anhalter. Gelingt es uns einen Autoschlüssel zu stehlen, ist Autodiebstahl ein Weg. An den meisten Schauplätzen stehen sämtliche Optionen frei.

Erwähnenswert ist auch, dass bei ein paar der kurzen Abenteuer Fähigkeiten freigeschaltet werden, die später sogar auf die nächsten Spielfiguren übergreifen. Zum Beispiel betrifft das Hacking oder Schlossknacken. Ist die Story durchgespielt, steht ein NG+-Modus zur Verfügung wo alle bereits freigeschalteten Fähigkeiten sofort vorhanden sind. Auch zumal einem beim ersten Durchspielen die eine oder andere Episode zwangsläufig entgeht, lohnt sich ein erneutes Durchspielen.
Mini-Games und Safecodes
Road 96 lässt sich nicht nur auf Entscheidungen und Verzweigungen reduzieren, denn die restliche interaktive Palette ist jedenfalls angenehm breit.

Zwischendurch wird dann je nach Laune fröhlich Pong gespielt, Air Hockey und andere Mini-Spiele, was ebenfalls oft in eine Story verflochten wurde. All das ist freilich nur eine kleine Auswahl. In vielen Fällen ist ein Scheitern nicht allzu dramatisch und hat vielleicht sogar einen unterhaltsamen Beigeschmack.
Stimmige Umsetzung
Wenig auszusetzen gibt es an der comic-artigen First-Person-Grafik. Das Adventure von DigixArt bietet vielleicht nicht die detaillierteste 3D-Spielwelt und die Charaktere sind von der Mimik her etwas weniger ausdrucksstark wie in anderen Spielen, doch das Gesamtpaket ist stimmig. In jeder kleinen Episode bewegen wir uns in einem kleinen Bereich frei herum. Bugs hatten wir in den rund sieben bis acht Stunden Spielzeit übrigens nie. Technisch sauber.

Wenig Grund zur Klage bietet auch die Steuerung, die ich eigentlich nur einmal bei einem Stromkreis-Mini-Game lästig fand (wo man ein Objekt von A nach B manövrieren und darauf achten muss, dass keine elektrisch geladenen Pole berührt werden). In der Regel geht die Controller-Steuerung sehr gut von der Hand, sie wird von den Herausforderungen aber selten ernsthaft auf die Probe gestellt. Natürlich gibt es am PC auch die Möglichkeit sich per Maus und Tastatur fortzubewegen, was ebenfalls den Zweck erfüllt.

'Road 96' wird immer besser, je länger es dauert. Nach einer Weile wollte ich alles unternehmen, um ein bestimmtes Ende zu erreichen, sowie Antworten auf einige Fragen zu finden. Das Gamedesign vermittelt erfolgreich das Gefühl, selbst die Reise bestimmen zu können. Nehmen wir ein Taxi, oder den Bus? Gehen wir zu Fuß oder fahren per Anhalter? Auch Autodiebstahl ist eine Option.
Abhängig von den unterwegs gesammelten Informationen bieten sich an der Grenze verschiedene Fluchtmöglichkeiten an. Daneben gibt es zwar kaum Rätsel die den Namen verdienen, aber es bleibt abwechslungsreich. 'Road 96' ist eines der wenigen narrativen Adventures die ich hinterher gleich nochmal spielen wollte. Das Storytelling ist enorm spannend, weil es keinen konventionellen Ansatz wählt. Beim ersten Durchspielen hat man längst noch nicht alles erlebt.
Zugleich hätte ich mir für die Spielfigur ab und zu mehr Backstory gewünscht, was letztlich aber einer der wenigen Kritikpunkte ist. Den Roadtrip habe ich nämlich sehr genossen. Wer ein narrativ orientiertes Adventures mit abwechslungsreichem Gameplay, interessanten Entscheidungen und einigen Verzweigungen sucht, der könnte hier also genau richtig liegen. Stark!
Zweites Fazit von Peter Färberböck:
"Entscheidungen haben doch keine Konsequenzen. Episodisches Erzählen ist Schnee von gestern. Narrative Spiele sind nur langweilige Walking Simulatoren." Mit den drei Klischees räumt 'Road 96' gekonnt auf. Die Entscheidungen haben nicht nur Konsequenzen, sondern ich fühlte mich auch für die Entscheidungen verantwortlich. Ebenso wollte ich bestimmte Ereignisse möglichst vermeiden und andere möglichst erreichen. Die kleinen episodischen Häppchen des Adventures sind nicht nur für sich nett und kleine Mini-Geschichten, sondern fügen sich auch noch in ein größeres Ganzes ein. Die Rahmenhandlung wird mittels den Geschichten der einzelnen Charaktere immer weiter angereichert. Selbst Details, wie auf Plakaten gedruckte Telefonnummern anzurufen, führen noch tiefer in die Geschichte. Dann wäre da noch das Gameplay, das ähnlich wie 'What Remains of Edith Finch' immer wieder auf sehr passende Minispiele setzt. Das fügt sich perfekt in die Handlung ein, sie sind kurzweilig und passen perfekt zur Atmosphäre.
Während ich zu Beginn nur interessiert etwas am Bürostuhl nach vorne gerückt bin, war ich mit fortführender Story immer weiter involviert und bin ganz an der vorderen Kante gesessen. Das von einem Diktator geführte Land Petria und die lieben Weggefährten am Weg zur Flucht vor diesem Regime fügen sich zu einem sehr einfühlsamen und teilweise auch sehr humorigen Gesamtbild zusammen. Kaum liefen die Credits, habe ich weitergespielt. Ich wollte wissen, wie ich den Figuren helfen kann. Das schafft nicht jedes Spiel und 'Road 96' schafft das großartig.
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Road 96
- Entwickler
- Digixart Entertainment
- Publisher
- Digixart Entertainment
- Release
- 16. August 2021
- Auszeichnungen
- Adventure Corner Award • Adventure des Jahres Redaktionswahl
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- https://www.road96.com/
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
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3 Kommentare
Bei der einleitenden Überschrift fehlt bei "Flucht" übrigens das "t".
Inzwischen suche ich immer zuerst nach diesen zwei Wörtern, damit ich nicht vergebens Minuten meines Lebens verschwende um das Review zu lesen