Kurz die Tasse Kaffee in die Hand nehmen und einen Schluck der bitteren, heißen Brühe schlürfen. Nebenbei den Wetterbericht lesen und dann weiter an die Arbeit. Ich lese die Krankenakte von Nina Maternova. Ein Hacker namens “initiate“ schreibt sie an. Gespannt verfolge ich das Gespräch und trage ins 'Orwell'-System ein, dass der Hacker die Seite der regierenden Partei lahmlegen will. Nebenbei finde ich noch Hinweise, dass jemand möglicherweise der Drahtzieher eines Terroranschlags ist. Schnell gebe ich ihre persönlichen Daten ins System ein. 'Orwell' und die Polizei werden schon wissen, wie sie damit umgehen. Kurz Mittagspause und danach erfahre ich prompt, was passiert ist. Der Verdächtige wurde ohne Gerichtsverhandlung eingesperrt. Die Welt ist sicherer – dank totaler Überwachung. Ich habe sie sicherer gemacht. Aber Moment! Da ist ein Widerspruch. Der Täter war eigentlich nur einkaufen. Ein kleiner Fehler führte dazu, dass ich das Leben eines Mitmenschen komplett zerstört habe. Naja, irren ist menschlich. Weiter geht’s mit der totalen Überwachung.

Was hat sich getan?
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Wir spionieren weiter frech Leuten hinterher |
Wer die ersten beiden Episoden kennt, oder unsere Preview gelesen hat, wird sich in den weiteren Episoden gut zurechtfinden. Man zieht weiter Datachunks in die 'Orwell'-Datenbank per Drag & Drop. Weiterhin werden Internetseiten, Chats und Telefongespräche ausgewertet. In den späteren Episoden werden auch immer öfter die PCs und Smartphones der zu untersuchenden Charaktere überwacht. Bilder, E-Mails und Browser-Verlauf sind hier unser Ziel. Das interessante Spielprinzip wird also noch um ein paar Möglichkeiten erweitert und bleibt so ziemlich abwechslungsreich. Vor allem die Anzahl der Verdächtigen macht das Ganze aber vielseitig und spannend. Alle einzelnen Terror-Verdächtigen sind vielschichtige Charaktere, die eine ganz klare Agenda verfolgen. Unter dieser offensichtlichen Ebene haben alle noch ein verstecktes Motiv, das sie treibt, und interessante Eigenheiten. Selbst der anfangs farblose Vorgesetzte Symes wird später immer menschlicher. Man kann zwar nur über 'Orwell' in die fiktive Stadt Bonton eintauchen, trotzdem fühlt man sich genau durch dieses vertraute PC-Interface geradezu in die Umgebung eingesogen. Das Spiel bricht geradezu regelmäßig die vierte Wand und stellt dem Spiel aktiv Fragen. Je weiter man im Spiel fortschreitet, desto stärker verschwimmt Realität und Spiel. Ich fragte mich immer wieder, was ich, als Person, machen soll, nicht was meint Alter Ego im Spiel machen sollte.
Die Moral von der Geschichte
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Beschuldigen wir Verdächtige wirklich wegen wenigen Hinweisen? |
Anfängliche Fehler, wenn man fälschlich jemanden beschuldigt, werden im späteren Spielverlauf auch schlagend und können über Freiheit, Gefangenschaft oder gar den Tod einzelner Charaktere entscheiden. Das Spiel wirkt anfangs sehr statisch und Entscheidungen scheinen keine wirkliche Rolle zu spielen. Je weiter man vordringt, desto mehr versteht man, dass man nicht zwingend alle Datachunks in die Datenbank einspeisen sollte. Einzelne kleine Verdächtigungen können zu drastischen Konsequenzen führen. Dies allein ist nicht die einzige moralische Entscheidung. So wird die totale Überwachung immer weiter auf die Probe gestellt. Natürlich beschuldigt man selbst einzelne vermeintliche Terroristen und hat über die Überwachung Beweise. Dadurch hat diese Information aber auch eine gewisse Allmacht und falsch verwendete Information kann zu völlig verschiedenen Enden führen. So wird das Spiel aktiv durch die eigenen Entscheidungen drastisch verändert und die Enden sind untereinander vollkommen verschieden. Verstärkt wird das durch die letzte Episode, in der man nur eine beschränkte Anzahl an Daten in 'Orwell' eintragen darf, weil es um Leben und Tod geht. Dann ist die Beweislage vollständig. Sammelt man nur belanglose Hinweise wie Fotos, wird man natürlich Schwierigkeiten haben sein eigenes Ziel zu verfolgen.
Ist Überwachung gut oder schlecht? Oder gar beides?
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Internet geht noch. Ach, das ist ein Spielfeature. Immersion ganz groß. |
Dieser Kernfrage stellt sich das Spiel völlig offen. In einer vernetzten, globalisierten Welt gibt es hier kaum schwarz und weiß. Verbrechen können verhindert werden, aber werden die Informationen durch die Datensammler missbraucht? Ein Achievement verrät uns z.B., dass wir sogar ein Paar durch Manipulation der Daten wieder zusammenbringen können. Die Osmotic Studios laden zur Selbstreflexion ein und versuchen den Spielern den Spiegel vorzuhalten. Wie steht man wirklich zu Überwachung? Darf ich diese Informationen nutzen und, wenn ja, wie darf ich sie benutzen? Oder bin ich vollkommen gegen Überwachung? Je nachdem schneidert sich das vermeintliche simple Spiel zur individuellen Spielerfahrung. Die Betonung liegt auf “Erfahrung“, denn auch hier werden wieder ernste Themen in eine spannende Darbietung eingeflochten. Herzklopfen und Zögern bei wichtigen Entscheidungen dürfen ebenso nicht fehlen, wie nachträgliches Hinterfragen, ob man denn wirklich richtig lag. George Orwell legt den literarischen Grundstein mit '1984'. Die Entwickler führen diese Überlegungen mit 'Orwell' ins digitale Zeitalter und stellen ähnliche Fragen ziemlich neutral und auf zeitgenössische Art und Weise. Chapeau!

'Orwell' will die Spieler geradezu polarisieren. Das Spiel selbst sieht aus wie ein Browser und lässt sich gleich bedienen. Das Gameplay ist also wie das tägliche Internetsurfen und womöglich sogar Arbeiten. Es handelt dann auch noch über die totale Überwachung durch das Internet der Dinge. Welche Auswirkungen das hat, kann man noch gar nicht wirklich vorhersehen. Die Osmotic Studios zeichnen eine dystopische Geschichte im Stile von '1984' vor und zeigen dem Spieler die positiven und negativen Konsequenzen dieser Überwachung. Dazu betten sie das Spiel noch in aktuelle Themen ein: ein Terroranschlag in der hiesigen Stadt. Zusammen mit der spannenden, wendungsreichen Geschichte zeigt sich ein individuelles Spielerlebnis, das durch die Spielerentscheidungen sehr deutlich von anderen Spielern abweichen kann. Geleitet wird das ganze durch die Grundeinstellung der Spieler. Ist man gegen oder für Überwachung? Sieht man eher die Vorzüge oder die Nachteile der Überwachung? Lässt man Verbrecher lieber laufen, oder nutzt das System? 'Orwell' schaffte es mich ein wenig zum Nachdenken zu bringen, denn der relativ neutrale Zugang zum Thema ist sehr selten. Ein wunderbares Erlebnis, das nahezu uneingeschränkt zu empfehlen ist!
Fazit von Tobias Maack: Wer steckt wirklich hinter den Anschlägen? Diese Frage trieb mich in 'Orwell' dazu, zunächst einfach mal die Datenchunks ins Überwachungssystem zu ziehen. Aber deutet mein Vorgesetzter diese Informationsbrocken so, wie ich? Schnell kann ein unbedachter Timeline-Post wie "Ich hasse das System" dazu führen, dass ein ansich harmloser Mitmensch zu einem Terrorverdächtigen wird. Viele Daten machen nur im Kontext Sinn und ergeben davon losgelöst ein ganz anderes Bild. Zu spät habe ich gemerkt, dass mein Vorgesetzter einzelne Daten anders beurteilt hat als ich und habe dann laut geflucht, als 'Orwell' mir die Konsequenzen meines Handelns unverblümt "live" präsentierte. Ich fühlte mich schuld daran, dass fremde Menschen meinetwegen nun ernsthafte Konsequenzen bekommen. Und genau das schafft 'Orwell': Man wird in die Welt des Überwachungsstaates gezogen. Dabei muss ich das System futtern, um weitere Zugriffsrechte zu erhalten. Wie aber gehe ich mit dieser Macht um? Nutze ich sie aus, um die Welt ein wenig besser zu machen? Und ist das, was ich als "bessere Welt" empfinde auch eine bessere Welt für die Anderen? 'Orwell' stellt den Spieler vor genau diese unangenehmen Fragen und ist damit hoch aktuell. Unbedingt anschauen!
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Orwell
- Entwickler
- Osmotic Studios
- Publisher
- Fellow Traveller
- Release
- 17. November 2016
- Auszeichnungen
- Adventure Corner Award
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://orwellgame.com/
- Art
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Independent
- Sprachen
-
- Systeme
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- Stichwörter
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