Seit 'Life Is Strange' hat sich Dontnod Entertainment aus Paris einen Namen damit gemacht auf narrative Spiele zu setzen und auch Minderheiten in ihre Spiele einzufügen. Aktuelle soziale und politische Themen sind stets Teil der Spiele. So ist es nicht verwunderlich, dass ihr aktuelles Adventure 'Tell Me Why' einen ähnlichen Weg einschlägt. Es sieht schon verdächtig nach 'Life Is Strange' aus, oder? Es geht um die Zwillinge Alyson und Tyler Ronan. Tyler ist Transgender und somit einer der wenigen Darstellungen dieser Geschlechtsidentität in Spielen. Dazu spielt es in Alaska und widmet sich dem indigenen Volk der Tlingit. Es kommt natürlich auch eine für Dontnod typische übernatürliche Fähigkeit dazu. Funktioniert dieser spannende Mix und kann 'Tell Me Why' an alte Erfolge von 'Life Is Strange' anknüpfen? Lest selbst.
Die Tragödie der Familie Ronan
Es beginnt mit einer echten Familientragödie. Wir befinden uns in Delos Crossing, Alaska. Die Zwillinge Alyson und Ollie (das ist Tyler vor seiner Transition) werden in Polizeigewahrsam genommen. Ihre Mutter wollte Ollie töten und er_sie musste in Notwehr seine_ihre Mutter töten. Darauf wurde Ollie als Strafe in die Fireweed Jugendstrafanstalt gebracht und Alyson wuchs bei ihrem "Onkel", Polizei Chief und Tlingit Eddy Brown auf. Die Zeit wird nach vorne gespult: Es ist 2015. Ollie ist nun Tyler und soll endlich Alyson wiedersehen. Sie wollen das Haus ihrer Mutter verkaufen, sodass Alyson in die benachbarte Stadt Juneau ziehen und Tyler seine Ausbildung als Ranger beginnen kann. Dort werden sie aber wieder mit ihrer Kindheit und den vielen Geschichten ihrer Mutter konfrontiert. Sie erlebten diese fantasievoll nach: Sie waren ihre zwei Kobolde. Dabei bemerken sie auch eine längst vergessene Kraft. Sie können über Gedanken miteinander sprechen und bildlich Erinnerungen vorstellen. Komischerweise haben beide jedoch leicht andere Erinnerungen an die Kindheit. Schnell stellt sich die Frage, was damals wirklich passiert war.
Episoden wie sie sein sollten
Wer sich noch an 'Life is Strange' und den zweiten Teil erinnert, kennt die langen Wartezeiten zwischen zwei Episoden zu gut. Abo-Systeme wie Netflix oder Disney+ zeigen mittlerweile, dass in TV-Serien entweder sofort alles verfügbar ist oder im Wochentakt eine Episode erscheint. 'Tell Me Why' macht genau das zweite System. Gepaart mit dem Abo-System des Game Pass on PC sind wir also genau da, wo Serien auch sind. Siehe da: Es funktioniert. Wie in einer Serie fieberte ich auf die nächste Episode. Jeder Teil dauert ungefähr drei Stunden und ist somit gut bis zur nächsten Folge bewältigbar. So soll das sein!
Ähnlich anderer TV-Serien macht jedoch 'Tell Me Why' einen recht interessanten ähnlichen Fehler. Die erste Episode leidet leider an etwas Exposition und an Pacing-Problemen. Die beiden folgenden Episoden waren deutlich flüssiger zu spielen. Im ersten Kapitel namens "Homecoming" (dt. Heimkehr) wird das Mysterium um die Familie Ronan und die Kräfte der beiden Zwillinge erst aufgebaut. In den beiden nächsten Episoden saugte das Spiel mich dann hinein. Gerade die Geschichte ist spannend aus verschiedenen Perspektiven und mit einigen Wendungen erzählt. Es ist nichts, wie es scheint.
Entscheidungen
Die wichtigste Entscheidung des Spiels treffen nicht wir, sondern Tyler mit seiner Transition. Schon als Kind hat er sich nicht als Mädchen gefühlt und wollte ein Junge werden. Sehr spannend ist, dass das Spiel dabei nicht sonderlich belehrend vorgeht, sondern das relativ schnell behandelt und Tyler dann als das behandelt, was er ist: Ein Mann. "Homecoming" bedeutet hier nicht nur "Heimkehr" nach Delos Crossing, sondern auch, dass Tyler seine eigene Identität gefunden hat. Gerade in dieser abgelegenen Gegend in Alaska tun sich die Bewohner und Weggefährten der Zwillinge zu Beginn zwar noch schwer, wachsen jedoch dann auch in die Situation hinein. Dass das natürlich aussieht und nicht in Klischees verlässt, stellt Dontnod durch die Zusammenarbeit mit GLAAD (Gay & Lesbian Alliance Against Defamation) sicher. Selbst der englische Synchronsprecher ist deswegen auch transmaskulin. Hier gleich der Hinweis: 'Tell Me Why' hat nur deutsche Untertitel.
Die Adventure-Spieler*innen kommen bei Entscheidungen aber dann doch wieder ins Spiel. Tyler und Alyson sind sich zwar oft einig, aber gerade die verschiedenen Erinnerungen sollen wieder vereinheitlicht werden. Dazu sind sowohl Tyler als auch Alyson spielbar – zwei Perspektiven auf ein Ereignis. Dazu kommen die Perspektiven der anderen Freunde und Bekannten dazu. Es heißt sich durch die Erinnerungen zu stöbern und durch Exploration immer genauer in die Vergangenheit zurückzublicken. Das Grundrätsel ist schon der Name des Spiels: 'Tell Me Why'. Nicht nur was ist damals passiert, sondern warum es passiert ist, steht im Mittelpunkt.
Ausgezeichnet und glaubwürdig
Gerade die Geschichte ist deswegen ein interessanter Einblick in die Gefühlswelt und die Psyche der beiden Zwillinge. Sie lernen im Laufe der drei Episoden ihre Mutter immer genauer kennen und lassen Euch dabei teilhaben. So entsteht trotz der übernatürlichen Fähigkeit eine sehr glaubwürdige und auch bewegende Geschichte. Ähnlich wie schon damals in 'Life is Strange' Max und Chloe an unsere Herzen gewachsen sind, geht es mit Alyson und Tyler ähnlich. Beide wirken äußert glaubwürdig und sympathisch – trotz der langen Trennung und naturgemäßer Meinungsverschiedenheiten. Die Exploration in diesem Spiel, und somit das Betrachten der Erinnerungen und Stücke aus der Vergangenheit, unterhalten auf sehr hohem Niveau.
Das klingt altbekannt, aber wo befinden sich die Macken? Neben dem angesprochenen Pacing der ersten Episode sind es die kreativen aber meist recht einfachen Rätsel. Stets folgen sie dem gleichen Schema: erst das genaue Betrachten des Rätselobjekts (z. B. eine Tür mit selbstgebautem Kombinationsschloss mit verschiedenen Zeichnungen) und dann wird im Buch der Kobolde nachgeschlagen. Diese Lektüre haben die beiden als Kinder gemacht und sie beinhaltet sämtliche Hinweise für alle Rätsel in diesem Abenteuer. Trotz kreativer Rätsel bleibt der Anspruch somit niedrig. Dazu wirken die leider obligatorischen Cliffhanger der Episoden fast schon wie mit dem Holzhammer hineingeschlagen.
Die größte Schwäche und Stärke zugleich
Gerade bei Dontnod sollte eigentlich die Inszenierung keine Schwäche sein. Zum Teil ist sie das aber. Weil im vorherigen Absatz der Holzhammer vorkam: Animationen wirken immer wieder hölzern und ruckartig. Die Charaktere wirken zwar überzeugend, starren aber in Dialogsequenzen gerne puppenhaft vor sich hin. Grafisch ist es zwar wieder sehr ansehnlich und manche Szenen sind zum Bestaunen gemacht. Spätestens, wenn Figuren interagieren oder jemand sich ruckartig und repetitiv hölzern nach vorne lehnt und das pixelgenau in einer Schleife alle paar Sekunden wiederholt, sind wir im sogenannten Uncanny Valley angelangt. So bleibt eine zum Teil ausgezeichnete Inszenierung, die durch Animationen und starr ablaufende Dialoge mit langen Pausen (das Spiel wartet da auf die Interaktion des Spielers) etwas geschwächt wird.
Es wäre kein Spiel des Pariser Studios, wenn nicht auch 'Tell Me Why' einen hervorragend passenden Soundtrack hat. Dieser ist äußerst hörenswert und passend gelungen. Die Grundstimmung wird so vor allem auf Audio-Ebene wirklich hervorragend herausgearbeitet. Neben dem Soundtrack sind es auch die ausgezeichneten englischen Sprecher*innen, die sehr positiv auffallen. Hier bleibt wieder das überstrapazierte „glaubhaft“ zu erwähnen. Authentisch sind sie obendrein. Zur marktüblichen Steuerung in ebenso bekannter Dontnod-Manier braucht man eigentlich keine Worte mehr verlieren, denn diese geht grundsolide mit Maus & Tastatur oder Gamepad von der Hand.
Fünf Mal kommt ‘Life Is Strange‘ vor. Das ist bei ‘Tell Me Why‘ kein Wunder. Es wirkt von Beginn wie der Name der ersten Episode: ‘Homecoming‘ / ‘Heimkehr‘. Das Adventure fühlt sich genau danach an. Wer ‘Life Is Strange‘ mochte, wird ‘Tell Me Why‘ wahrscheinlich ähnlich lieben. Durch die Zugänglichkeit ist es aber für jeden empfehlenswert.
Hier stimmt fast alles. Einzig die Rätsel sind etwas zu einfach und hie und da geht die Geschichte zu langsam oder zu schnell. Dazu wirken die sonst so lebensechten Figuren bei den Animationen fast verstörend hölzern. Glücklicherweise kann man oft die Kamera einfach so drehen, dass man eine schöne Landschaft bestaunen kann.
‘Tell Me Why‘ wirkt wie ein Besinnen auf alte Stärken. Vor allem zu Beginn könnte es fast als Klon bezeichnet werden. Trotzdem funktioniert alles so gut, dass ich es sehr gerne gespielt habe. Dank den deutschen Untertiteln und den sehr guten Sprechern ist es für mich trotzt genannter Schwächen eine uneingeschränkte Empfehlung. Nicht zuletzt auch wegen der natürlich eingearbeiteten sozialen und politischen Elemente von Transgender und der Tlingit.
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Tell Me Why
- Entwickler
- Dontnod Entertainment
- Publisher
- Microsoft
- Release
- 27. August 2020
- Auszeichnungen
- Adventure Corner Award
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- https://www.tellmewhygame.com/
- Sprachen
-
- Systeme
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- Stichwörter
- Tell Me Why bei Amazon kaufen (Affiliate-Link)
6 Kommentare
Wird es auch eine Umsetzung für die PS4 geben?
Aber ja, hat mich sehr positiv an LIS erinnert .