Ihre erste kurze Blütezeit erlebten FMV-Spiele in den 1990er Jahren – durchsetzen konnte sich diese damals neue Art des Adventures trotz einiger Perlen und teils hochkarätiger Besetzung nicht. Heute feiern FMV-Spiele ein beachtliches Comeback. 'I Saw Black Clouds' von Wales Interactive – diesem Studio haben wir unter anderem 'Headspun' zu verdanken und Ghost Dog Films ist der neueste Vertreter des totgesagten Subgenres, setzt auf qualitativ hochwertiges Filmmaterial und tut gar nicht erst so, als sei es ein Point and Click-Adventure. Vielmehr ist das Werk ausdrücklich als interaktiver Film deklariert, der aber gleichzeitig mehr bieten soll als bloßes Zusehen, unterbrochen von dem ein oder anderen Klick mit der Maustaste. Dem wollten wir natürlich auf den Grund gehen und haben den Pyschothriller mit übernatürlichen Elementen daher gewissenhaft auf Herz und Nieren geprüft.

Tiefes Vordringen in psychische Probleme
Das Spiel beginnt mit einer Warnung vor den folgenden Inhalten. Diese seien verstörend, enthielten Gewalt und seien daher nichts für zartbesaitete Gemüter - Weiterspielen auf eigene Gefahr. Der erste Satz - „Just relax. You're safe now“ - trägt nicht unbedingt zur Entspannung bei, und wie um zu beweisen, dass die Warnung ernst genommen werden muss, werden wir nach den ersten einleitenden Sätzen auch gleich mit einem Selbstmord konfrontiert. Emily, eine junge Frau, hat sich erhängt, und schon ahnen wir: Da steckt mehr dahinter als schwere psychische Probleme. Denn die einleitenden Sätze, die wir zuvor gehört haben, werden von Emily gesprochen und geben einen ersten Hinweis darauf, was uns noch erwarten könnte.

Die düstere Grundstimmung fesselt ab der ersten Sekunde, zerrt je nach Verlauf sehr rasch an den Nerven und sorgt dafür, dass man schon in der ersten halben Stunde wie auf Nadeln sitzt. Gut platzierte erzählerische Elemente – ein nächtliches Klopfen, eine körperlose Stimme, ein bleiches Gesicht im Dunkeln – erzeugen in Kombination mit der ohnehin schon düsteren Stimmung eine beängstigend-gruselige Atmosphäre, die einen mühelos in ihren Bann schlägt.

Wir haben die Zügel in der Hand ...
Der Aufbau des Spiels erinnert stark an die so genannten „Spielbücher“, die einen nach dem Lesen eines Abschnitts immer wieder vor die Wahl stellen, wie es weitergehen soll. Je nach Entscheidung fährt man dann mit einem anderen Abschnitt fort, an dessen Ende erneut gewählt werden muss. Das wird so oft wiederholt, bis der Leser bei der Auflösung bzw. dem Hauptende des Buches angekommen oder durch eine Fehlentscheidung scheitert.

… müssen sie aber auch mal abgeben
Es gibt also kaum etwas, das Kristina ohne unsere Einmischung tun oder unterlassen kann. Wie bei einem Spielbuch bestimmen wir permanent die Handlung. Ohne uns Spieler geht gar nichts. Für jede Entscheidung haben wir allerdings nur begrenzt Zeit. Sind wir einmal zu langsam, übernimmt das Spiel die Wahl für uns. Es gibt auch Game Overs, etwa, wenn wir Kristina durch unsere Entscheidungen in eine Sackgasse getrieben haben und sie womöglich stirbt. In diesem Fall werden wir nach einer kurzen Zwischensequenz an jene Stelle zurück katapultiert, an der wir die falsche Wahl getroffen haben. Stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, sind mitunter zwei, drei Anläufe notwendig, um einer gefährlichen Situation zu entkommen. Ein Game Over schaltet übrigens nicht automatisch eines der vier Enden frei. Das Spiel übernimmt vielmehr an diesen Stellen die Regie, damit wir den nächsten Fixpunkt erreichen.

Ein eigener Streamer-Modus bringt übrigens noch mehr Interaktivität. Denn während eines Live-Streams wird das Spiel immer dann angehalten, wenn eine Entscheidung ansteht. Zuschauer können sich an solchen Stellen einbringen und mitbestimmen, in welche Richtung es weitergehen soll.
Filmreife Präsentation
'I Saw Black Clouds' ist optisch sehr hochwertig und zeigt eindrucksvoll, wie sehr sich das Genre der FMV-Spiele in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt hat und welche Möglichkeiten es heutzutage bietet. Hier wurden sämtliche Register filmischer Darstellungsmöglichkeiten gezogen: Verzerrte Bilder lassen uns an unserer Wahrnehmung zweifeln. Bestimmte Perspektiven und Kamerawinkel suggerieren, dass Kristina beobachtet wird.
An einem bestimmten Punkt können wir dank First-Person-Perspektive die Welt auch kurz durch Kristinas Augen sehen. Licht und Schatten werden gekonnt und oft sehr subtil eingesetzt. Bei einem Besuch in einer Bar etwa wird uns die Darbietung einer jungen Sängerin präsentiert, die von rot-schwarzer Dunkelheit umhüllt auf der Bühne steht. Diese Dunkelheit wird von blauem Licht durchbrochen, was auf den ersten Blick wie ein Bühneneffekt wirkt. Gleichzeitig erzeugt dieser Effekt aber auch das subtile Gefühl einer sich nähernden Bedrohung. Auf die Darstellung expliziter Gewalt wurde übrigens verzichtet. Wir bekommen zwar zu Beginn Emilys Leiche zu sehen und müssen uns in der Folge immer wieder auch mit den Folgen von Gewalt befassen, der Anblick der entsprechenden gewalttätigen Handlungen bleibt uns aber zum Glück erspart. Dennoch wird einem an solchen Stellen anders zumute, denn die Geräuschkulisse in diesen Szenen lässt keinen Zweifel daran, dass gerade etwas Grausiges passiert. Die Details bleiben jedoch unserer Phantasie überlassen, und das ist nicht minder effektiv.


'I Saw Black Clouds' überzeugt mit einer psychologisch dichten Handlung und übernatürlichen Elementen, die passieren können, aber nicht müssen. Viele Erzählstränge sind optional und werden durch unsere Entscheidungen getriggert. Die Behauptung, dass man als Spieler die Handlung steuert, ist insofern definitiv kein leeres Gerede, im Gegenteil: Über 570 Einzelszenen und vier unterschiedliche Enden sprechen eine sehr klare Sprache. Ein Gameplay gibt es nicht, allerdings wäre das auch ein störender Fremdkörper. Die Geschichte wird flüssig erzählt, ohne, dass es nach einer Entscheidung ein Stocken gäbe, das uns aus der Handlung herausreißt. Lediglich ein kaum merkbarer Schnitt, etwa zurück aufs Gesicht eines Charakters, erinnert uns ganz kurz daran, dass wir soeben auch eine andere Wahl hätten treffen können und dass eine Szene mehrfach sowie mit unterschiedlichen Dialogen gedreht worden ist. Dann geht es auch schon reibungslos weiter. Unterm Strich zeigt Wales Interactive mit 'I Saw Black Clouds' eindrucksvoll, wie toll ein interaktiver Film im Jahr 2021 aussehen und funktionieren kann.
Zusätzliches Fazit Matthias Glanznig (12.10.2022): 'I Saw Black Clouds' ist für mich ein schwieriger Fall. Die teilweise nicht professionelle filmische Umsetzung (v.a. was die sonderbare Beleuchtung in den Räumlichkeiten bei Tag anbelangt) konnte ich zwar verschmerzen und die Besetzung geht in Ordnung, doch die Story wollte bei mir gar nicht zünden. Der Anfang ist recht ordentlich, aber der Rest wirkt sehr an den Haaren herbeigezogen. Obendrein bin ich kein Fan von Trial-and-Error bei Leben&Tod-Entscheidungen. Vieles davon ist eine Frage des Geschmacks, aber dieser FMV-Titel ist dennoch sehr mit Vorsicht zu genießen. Wer kein Problem mit schrägen Low-Budget-C-Movie-Geschichten hat und wenig Wert auf interessante Entscheidungsmöglichkeiten legt, der kann bei Interesse dennoch einen Blick riskieren.
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I Saw Black Clouds
- Entwickler
- Ghost Dog Films
- Publisher
- Wales Interactive
- Release
- 30. März 2021
- Auszeichnungen
- Adventure Corner Award
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- https://www.walesinteractive.com/isawblackclouds
- Systeme
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- Stichwörter
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Headspun
- Entwickler
- Superstring
- Publisher
- Wales Interactive
- Release
- 28. August 2019
- Spielzeit
- 5 Stunden
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://headspun.co/
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
- I Saw Black Clouds im Humble Store kaufen (Affiliate-Link)
10 Kommentare
BTW Switch: - Tales from the Borderlands ist seit kurzem erhältlich! Zuschlagen wer es noch nicht hat.
Ich hätte gerne mal wieder ein richtiges FMV-Adventure wie GK2.
Ich denke das ist auch der Grund warum keine FMV Games mehr kommen. Das letzte große war übrigens Tesla Effect, vielleicht kennst das ja noch nicht.
Es sind auch die Animationen. Motion Capturing ist teuer, Live Action auch. Handgezeichnete Animationen sind günstiger. Beim Aufwand, der heutzutage bei Spielen betrieben wird, ist Live Action halt fast zwangsweise schlechter. Gegen gut gezeichnete wirkt es halt altbacken und starr - auch weil gute Regie, gute Schauspieler und gute Kamera wieder teuer sind. Die Engines können da schon so viel, da ist das einfach nur etwas für ein paar Studios, die halt eher filmisch unterwegs sind.
Das "einen Film nachspielen" hat man mittlerweile eher in extrem teuren Produktionen wie Last of Us oder God of War. Da ist auch die Freiheit deutlich größer.
Ein paar setzen aber auch auf so Zwischendinger: Rotoskopie aus dem Animationsfilm. Filmen oder Fotografieren von Bewegungen und diese dann nachzeichnen. Günstiger und doch recht ansehnlich.
Diese "interaktiven" Filme gibt's wirklich wie Sand am Meer und sind meistens auch genau so spannend...
Sofern die aktuelle Playstation-Systemsoftware installiert ist und der Uninstall/Reinstall-Vorschlag nicht hinhaut, gibts auf der Konsole leider nicht viele andere Sachen die man tun kann. Neustarten hat ja offenbar nicht geklappt.