Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot erlebt aktuell einen zweiten Frühling. Mehrere Kinofilme und Spiele schickten den Ermittler in den letzten Jahren auf verschiedene Abenteuer. In diesem Jahr bescherte uns Publisher Microids sogar gleich zwei Krimi-Adventures. Während 'The London Case' im August eine gänzlich neue Geschichte erzählt, führt uns das im Oktober erschienene 'Mord im Orient Express' in den berühmten Zug. Kenner des Originals oder der anderen Film- und Spielumsetzungen sollen aber trotzdem genug Neues erfahren. Ob das wirklich so ist und welches nun das bessere Krimi-Adventure um den Meisterdetektiv ist, verraten wir Euch in unserem Test.
Das Spiel portiert Poirot mitsamt Orient-Express ins Jahr 2023Die erste große Änderung zur Originalgeschichte aus dem Jahr 1934 wird uns direkt im ersten Screen offenbart: Dort wird das Datum als der 15. Dezember 2023 eingeblendet, als Hercule Poirot die Lobby eines noblen Hotels in Istanbul betritt. Dort wartet schon Bouc, der Direktor der Eisenbahngesellschaft, auf seinen alten Freund. Poirot bekommt eine Mitteilung auf sein Handy: Er wird dringend in London erwartet. Bouc schlägt ihm daraufhin die Fahrt mit dem von einer Dampflok gezogenen Orient-Express vor, der anlässlich seines 140. Geburtstags erneut die historische Route von Istanbul bis Paris fahren soll. Von Paris plant Poirot die Weiterreise per Flugzeug...
Neben Poirot ist noch eine zweite Ermittlerin an BordNach diesem doch eher unrealistischen Einstieg in die Geschichte findet sich der Ermittler bald an Bord des Luxuszuges wieder. Bald darauf geschieht der titelgebende Mord und der Zug bleibt in einer Schneewehe zwischen den Städten Vinkovci und Brod stecken. Soweit so bekannt. Poirot übernimmt die Ermittlungen in dem Mordfall, da der Zug trotz vieler Handys an Bord von der Außenwelt abgeschnitten ist. Schon bald trifft er auf eine Reisende, die sich als Joanna Locke vorstellt und ihrerseits die Ermittlungen im Entführungs- und Mordfall Daisy Armstrong übernommen hat. In Rückblenden erleben wir nun die Untersuchungen in den USA, die schließlich zu dem Aufeinandertreffen der beiden Ermittler führen. Damit nicht genug der Neuerungen, denn anders als im Roman endet das Spiel nicht mit der Aufklärung des Mordfalls im Zug, sondern Poirot und Locke reisen noch an weitere Orte wie beispielsweise Venedig oder Genf.
Neue Charaktere und Orte
Ah, Venedig.Kenner des Krimis - sei es nun als Film oder Buch - werden von dem Geschehen im Zug zunächst nicht überrascht sein. Dabei handelt es sich aber nur um rund ein Drittel des Spiels. Den Großteil der Spielzeit verbringen wir hingegen in den USA, wo wir die Entführung von Daisy Armstrong aufklären. Wer hinter diesem Fall steckt, überrascht uns zwar ebenfalls nicht. Wie sich die Ermittlungen im Jahr 2023 jedoch entwickeln, ist durchaus unterhaltsam. Das letzte Drittel des Spiels fügt der Story nochmal eine ganz neue Wendung hinzu, deren Auflösung jedoch nicht ganz die Qualität eines Christie-Krimis erreicht. Dennoch wird das Spiel hier noch einmal unerwartet spannend.
Einige Rätsel wirken leider recht aufgesetzt...Leider gibt es auch immer wieder einmal unlogische oder aufgesetzt wirkende Aufgaben. Nach dem schon recht holprigen Einstieg in die Geschichte, bei dem eine der schlaueren Personen der Welt lieber einen Zug als ein Flugzeug besteigt, wenn er es eilig hat, drehen sich einige der ersten Aufgaben im Spiel nicht wirklich um Detektivarbeit. Mal muss Poirot beim Einräumen eines Kühlschranks helfen (als eine Art Puzzle dargestellt), dann die Zusammensetzung des Desserts ermitteln oder eine Saftpresse reparieren, deren Zahnräder richtig kombiniert werden müssen. Und ja, diese Rätsel sind so abgenutzt wie sie klingen. Entsprechend fügen sie sich nicht unbedingt gut in die Geschichte ein, was selbst Poirot an einer Stelle im Spiel etwas wütend kommentiert. Andere Aufgaben hingegen fühlen sich wie richtige Detektivarbeit an, insbesondere in den letzten Spielstunden, wenn wir zwischen beiden Ermittlern wechseln können und somit der Aufklärung näherkommen. Dazwischen gibt es einen bunten Strauß verschiedenster Knobeleien, die aber durch die Bank nicht sehr schwer zu meistern sind.
...Andere fügen sich sehr gut ein, sind aber auch nicht sonderlich schwer.Wie es sich für ein aktuelles Detektiv-Adventure gehört, dürfen wir auch in 'Mord im Orient Express' der Deduktion nachgehen und in einer gesonderten Ansicht Verknüpfungen zwischen einzelnen Indizien oder Beobachtungen bilden. So rekonstruieren wir verschiedene zeitliche Abläufe, finden Verbindungen oder erfahren mehr über die Mitreisenden. Dabei kommt es auf den ersten Blick auf die gute Beobachtungsgabe des Spielers an, wenn wir Schlüsse aus einmal gehörten Sätzen oder Beobachtungen ziehen müssen. Damit es auch bei Spielpausen oder für unaufmerksamere Abenteurer weitergeht, können an dieser Stelle Tipps zugeschaltet werden, Dialoge lassen sich teilweise wiederholen. Und wem das noch nicht reicht: Das Spiel lässt nur die richtige Lösung zu, falsche Antworten führen zu kurzen Kommentaren der gespielten Figuren. Wer alles im ersten Anlauf richtig macht, bekommt dafür aber ein Achievement. Gleiches gilt, wenn man alle goldenen Schnurrbärte findet, die vom Spiel an bestimmten Orten versteckt sind. Diese tragen jedoch nichts zur eigentlichen Handlung bei.
Schicker Orient-Express
Im Gegensatz zu den Hintergründen sind die Charaktere etwas überzeichnet...Der nostalgische Zug kann sich wirklich sehen lassen, die Grafik der Hintergründe gefällt. Zusammen mit dem eingängigen Jazz-Soundtrack kommt durchaus eine stimmungsvolle Atmosphäre auf. In den anderen Orten lässt die Grafik etwas nach, hier merkt man dem Spiel deutlicher an, dass es sich nicht um ein neuestes AAA-Produkt handelt, sondern "nur" um ein recht schickes Adventure. Bei den Charakteren fällt die Grafik deutlicher ab. Diese sind durch die Bank überzeichnet, insbesondere die Mimik ist oft übertrieben dargestellt. Das zeichnet auch die deutsche Sprachausgabe aus, bei der die Sprecher versuchen, einen zum Charakter passenden Akzent nachzustellen und dabei manchmal übers Ziel hinausschießen. Insgesamt macht die deutsche Version jedoch einen recht guten Eindruck.
Kein Point-and-Click
Für unseren Test haben wir zum Gamepad gegriffen und damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Alternativ kann das Spiel auch per Tastatur und Maus gesteuert werden, allein mit der Maus kommt Poirot jedoch nicht voran. Je nach aktivem Charakter darf sogar gerannt werden: Die deutlich jüngere Joanna Locke sprintet gerne durch die Szenerie und muss sich im Spielverlauf sogar einer Verfolgungsjagd stellen. Poirot hingegen hält von sportlicher Betätigung nichts und kommentiert das auch an einer Stelle beleidigt mit "Sie haben mich zum Rennen gebracht, Ermittlerin Locke! Poirot rennt nicht!" Dabei wäre es aus Spielersicht nett gewesen, wenn der belgische Detektiv in den mit der Zeit doch recht langen Waggons des Orient-Express etwas schneller zu Fuß wäre.
Im direkten Vergleich zum 'London Case' bietet die Neuauflage von 'Mord im Orient Express' deutlich mehr Interaktion. Auch wenn einige der Aufgaben sehr aufgesetzt sind und die Geschichte direkt zu Beginn ein größeres Logikproblem hat, renkt sich dies im Laufe der Zeit wieder ein. So finden wir auf der Reise einige gute Knobeleien und leider erst gegen Ende hin komplexere Aufgaben. Auch in diesem Krimi-Adventure stehen jedoch Dialoge im Vordergrund, inklusive dem Aufdecken von Widersprüchen. Für Kenner des Stoffs bietet das Spiel genügend Neues, wobei die Zeitreise ins Jahr 2023 nicht einmal die größten Auswirkungen auf das Spiel hat.
Mit zu den schlimmsten Adventure-Rätseln zählen die immer gleichen, Kontext losen Logikaufgaben, bei denen man gerne Kisten rückt, irgendwelche Verschiebe-Rätsel löst oder Brettspiel-Stellungen gewonnen werden sollen. Feine Rätsel, die's Spaß macht zu lösen, die logisch, spannend wie kreativ sind und sich natürlich aus dem Geschehen ergeben, es vorantreiben, sind relativ selten.
3 Kommentare
Kann man, muss man aber nicht.