Das kleine russische Studio Morteshka lieferte Ende des Jahres ein Spiel, das es in so einige Indie-Kolumnen als Geheimtipp schaffte: 'Black Book'. Das weckte unser Interesse und es der Genre-Mix passt auch hervorragend in unsere Storyteller-Rubrik. Immerhin verspricht es ein klassischen Sammelkarten-Rollenspiel mit einem Visual Novel zu vereinen. Fans von 'Thronebreaker: The Witcher Tales' dürfen aufhorchen. Vielmehr ist es aber das unverbrauchte Setting, das uns hier die Ohren spitzen ließ. Der Perm-Distrikt in Russland im 19. Jahrhundert. Was haben sie mit schwarzer Magie und einer gehörigen Prise orthodoxer Kirchen denn da vor? Ist das etwa so ein Spiel, das ganz klare Kategorien von "Gut" und "Böse" hat? Wir haben uns hier rangetraut und berichten von unsere Reise in eine kalte und düstere Welt.
Vasilisa lebt in einer Hütte im Nirgendwo - so könnte man sagen. Ihr verstorbener Verlobter führt sie aber bis in die Hölle.In Europa ist der Konflikt am Brodeln: Der Große Krieg naht. Vasilisa ist eine junge Zauberin im russische Zarenreich des 19. Jahrhundert – genauer gesagt in der Region Perm nördlich der Stadt Tscherdyn. Ihre bevorstehende Berufung als weise Frau – man könnte auch Hexe sagen – ist ihr aber egal. Sie will ihren Verlobten heiraten. Unter mysteriösen Umständen stirbt er jedoch und gelangt in die Hölle, denn es wird als Selbstmord gehandelt. Vasilisa kann das nicht glauben und will ihre dunklen Künste nutzen, um ihn aus der Hölle zu befreien. Dazu sucht sie das namensgebende schwarze Buch, das dämonischer Herkunft ist, aber mit sieben Siegeln verschlossen ist. Sind diese erstmal geöffnet, wartet unbeschreibliche Macht auf sie. Das Spiel und die Geschichten basieren dabei auf Bailichkas, einem Erzählgenre der russischen Volkskunde. Sie handeln stets um eine mythische Begegnung des Erzählenden mit einem bösen Geist, die angeblich wahr sei. Dazu kommen dann auch noch Zaubersprüche in Kartenform aus diesem schwarzen Buch, Dämonen und eine wendungsreiche Geschichte. Interessant? Lest weiter.
Sammelkartenspiel, Sünden und Dämonen
Karten werden immer mächtiger und haben später gleich mehrere Funktionen. Hier ist auch zu sehen, wie Dinge über Toolstipps und Hervorhebungen erklärt werden.Russische Volkskunde ist hier das Hauptthema. Viele Wörter bleiben deswegen auf Russisch und werden per erscheinendem Tool-Tipp erklärt. Ein Teil des Spiels ist es, diese Wörter zu lernen, zu erkennen und in einigen Entscheidungen auch richtig zu verwenden. Es ist also nicht verwunderlich, dass es zu Beginn ein bisschen komplex erscheint. Immerhin findet man hier ein Sammelkartenspiel wie 'Gwent' oder 'Hearthstone' als Hauptmechanik. Am ehesten ähnelt es aber vielmehr der Einzelspieler Auskopplung 'Thronebreaker: The Witcher Tales', denn auch hier kommt die Story nicht zu kurz. Das Kartenspiel selbst bleibt zwar erstaunlich vielseitig und – vor allem zu Beginn – ebenso komplex. Da 'Black Book' aber ein Einzelspieler-Spiel ist, darf es mit gewissen Karten auch Wild eskalieren. Man glaubt, übermächtig zu sein: Das ist Teil der Fantasie. Dann kommen aber immer wieder Dämonen, die ohne Kartendeck-Umbau nicht so einfach zu bannen sind und uns zu Überlegungen zwingen. Rätsel-Bosse lassen nur gewissen Karten zu und müssen in wenigen Runden ausgeschaltet werden. Das Spiel führt aber sehr schön und langsam in die Kartenmechaniken und nach ein paar gebrochenen Siegeln hat man ganz für sich selbst einen gewissen Spielstil entdeckt, der immer stärker wird.
'Black Book' bietet so einige Spielmechaniken, die das übliche Kämpfen über karten und die Visual-Novel-Passagen begleiten.Es gibt aber auch Talismane, die den Spielstil ordentlich beeinflussen und deren man langsam im Laufe mehr verwenden kann. Ebenso helfen Kräuter als Buffs (Verstärkungen) oder als Heilung. Dazu kommt noch ein einfach gehaltenes Verwaltungsspiel Dämonen (Chorts), die zu Aufträgen geschickt werden müssen. Behält man sie, bekommt man selbst Debuffs oder Mali (weniger Leben, weniger Rüstung durch Karten, weniger Schaden, etc.). Schickt man sie los, begeht man jedoch Sünden. Der orthodoxe Glaube und der häretische Volksglaube und deren Rolle in der russischen Landesbevölkerung dieser Zeit steht im Mittelpunkt. Das klingt zwar nach viel Story mit wenig Auswirkungen, aber gerade die Ansammlung von Sünden kann auch das Spielende gehörig beeinflussen. Drei verschiedene Enden sind zu erreichen. Hier kommt auch schon der deutlich wichtigere Teil: Die Story.
"Gut" und "böse"? Die Moral von der Geschicht'
Ist sie 'gutIn 'Black Book' existiert also "Gut" und "Böse" nebeneinander. Das bedeutet aber gar nicht unbedingt, dass es die Kirche als uneingeschränktes "Gutes" darstellt, sondern oft ist es immer eine Frage des eigenen Geschmacks. Natürlich ist der Teufel böse, natürlich sind die Dämonen das auch. Aber ein Waldgeist, der ein Dorf in Gefangenschaft hält, weil er es vor dem herannahenden Ersten Weltkrieg dadurch schützen will? Ist das nun böse oder gut? Ost eher beides? Genau um solche Graubereiche und auch um die Rolle der Kirche, die diese ganz klar ohne Spielraum festlegt, geht es um das Spiel Das Ende kann zwar klassisch als "gut", "böse" oder "neutral" gesehen werden, hat aber stets ein düsteres oder positives Gegengewicht.
Der Teufel höchstpersönlich will, dass wir die Siegeln unseres 'schwarzes BuchDas Spiel ist durch die Siegel ganz natürlich in mehrere Kapitel aufgeteilt. Jedes dreht sich stets um einen besonderen Geist der russischen Volkskunde. Seine Besonderheiten und Bosheiten werden aufgezeigt. Je nachdem kann man sich für oder gegen ihn entscheiden. Vasilisa wird dabei stets von anderen Figuren begleitet, die man im Laufe des Spiels auch immer wählen kann und spielmechanisch Vorteile bringen. Gleichzeitig dienen sie aber als Gesprächspartner zwischen den Missionen und auch bei Gesprächen mit anderen Figuren. Wir bewegen uns dabei auf einer abstrakten Karte in vorgegebenen Wegen mit Abzweigungen und Nebengeschichten. In knapp 30 Stunden Spielzeit erlebt man so eine spannende Geschichte rund um ein historisches Setting, das mit der tatsächlichen Rolle der Magie und des Glaubens in der Vergangenheit gekonnt spielt. Erstaunlich, was es hier zu bieten hat!
Low-Poly und russische Volkslieder
Trotz einfachem Stil kann dieses Spiel so schön aussehen.Morteshka, das Entwicklungsstudio hinter 'Black Book’ ist ebenso aus Perm und umfasst laut Website nur fünf Personen. Es ist also klar, dass ein Spiel solcher Komplexität und eines solchen Umfangs nicht in „fotorealistischer“ Optik daherkommen kann. Sie wählten deswegen einen stilsicheren, sehr düster gehaltenen Low-Poly-Look, in dem die Farbe grau dominiert, aber mit einzelnen Farbakzenten immer wieder Dinge hervorgehoben werden. Es setzt dabei auch immer auf Schwarz-Weiß-Kontraste, um zu signalisieren, was gut und böse ist. Gleichzeitig spielt es genau mit diesen Kontrasten, die so nur schwer zu halten sind. Insgesamt ist die Optik so zwar sehr kantig und nur wenig detailreich, passt aber zur eisigen und fast schon melancholisch erinnerten Welt.
'Black Book' ist aber kein Grafikblender, sondern setzt auf eine dichte Atmosphäre, die uns hineinziehen möchte. Die Musik und die Sprachausgabe sind hier weitere ElementeDie Musik fügt sich nahtlos ins Setting. Lauten, Flöten und russische Volkslieder begleiten Spiele. Gerade die Chöre sind ein Element, das man immer wieder im Spiel findet und auf das man sich auch immer ein wenig freut. Inmitten des Chaos kann man kurz einfach russischen Volksliedern lauschen und – wie die Figur – mitsummen und leicht mitschwanken. Um den Begriff der Atmosphäre zu nutzen: Morteshka weiß genau, was sie mit 'Black Book' für eine Atmosphäre erzeugen wollen. Diese wird auch durchgehend eingehalten und alle einzelnen Elemente verstärken sie zu einem intensiven Erlebnis.
Erstaunlicherweise hat es zwar eine englische Sprachausgabe, aber die russische Sprachausgabe ist äußerst exzellent und schwer empfehlenswert. Sie gibt noch einmal ein Stück Atmosphäre dazu. Immerhin ist man auch stets mit den russischen Begriffen – ohne Übersetzung, aber mit Erklärung – konfrontiert. Die englischen Untertitel sind sehr solide und dank für Visual Novels typische Portionen mit 1-2 Zeilen pro Klick auch sehr gut lesbar, ohne in Stress zu gelangen. Eine deutsche Übersetzung sucht man hier jedoch vergebens.
Obwohl das rundenbasierte Kartenspiel eher träge ist, hatte 'Black Book' eine großartige Dramatik. Man kann zwar kaum Animationen überspringen oder das Spiel anderswo beschleunigen und ist in manchen Kämpfen nach ein paar Toden davon etwas genervt. Vor allem am Anfang wirkt es zäh und man watet wie durch den Morast durchs Spielerlebnis. Das erzeugt aber auch wieder die passende Stimmung: Es geht hier nicht um Geschwindigkeit, sondern um aufmerksames Lauschen und Lesen. Mit der Zeit nimmt das Spiel aber erstaunlich Tempo auf und erzeugt eine ordentliche Sogwirkung. Während zu Beginn die Spielsitzungen noch wenige Kämpfe lang waren, waren es im letzten Dritten stundenlange Aufenthalte im russischen Perm-Distrikt. Komfort der großen Mainstream-Titel findet man hier keinen. Es ist gerade dieses Ungeschliffene, dass den Charme ausmacht. Spielerisch ist es solide, Story-technischen gut bis brillant. 'Black Book' zeigt, was man mit Magie abseits der üblichen Feuerzauber machen kann und was ein unverbrauchtes Setting mit ein bisschen Sprachspielereien alles schaffen kann. Ich hatte mit der Zeit immer mehr Spaß.