Zwei Jahre nach dem Release von 'Blacksad' sind die Entwickler von Pendulo Studios zurück, diesmal mit Psychothriller-Kost: 'Alfred Hitchcock - Vertigo' erschien vor wenigen Tagen für Windows PC (samt deutscher Sprachausgabe). Ein Filmklassiker dient als Inspiration und wir begeben uns tief in die Psyche eines traumatisierten Autors hinein, der womöglich ein düsteres Geheimnis verbirgt. Wie gut uns die dramatische Therapiesitzung gefallen hat, das erfahrt Ihr jetzt im ausführlichen Test. Bei dieser Gelegenheit haben wir auch nochmal einen Blick auf das filmische Vorbild geworfen.

Eds Kindheitstrauma
Der interaktive Psychothriller legt mit einem Knall los: Ed Miller erwacht am Abgrund neben einer Brücke. Tief unten das Wrack seines Autos, in dem noch seine Freundin Faye und ihr gemeinsames Baby sein sollen. Um dem Drama noch eins draufzusetzen ist dieser Schockmoment nahezu die exakte Kopie eines Erlebnisses aus seiner Kindheit. Ähnlich hat der Schriftsteller damals seine Mutter verloren, sogar am gleichen Ort. Ist so ein Zufall möglich, oder bildet sich Ed alles ein? Ein Produkt einer psychischen Störung? Alkohol? Drogen? Von den Leichen fehlt jedenfalls jede Spur und niemand kann bezeugen kann, dass die mysteriösen junge Frau jemals existiert hat.

Besessenheit
Krankhaftes Verhalten steht im narrativen Mittelpunkt dieser düsteren Geschichte, allen voran extreme Formen der Obsession, die sich in allen spielbaren Charakteren irgendwie widerspiegelt. Der Fokus auf Besessenheit ist zugleich der wohl auffälligste Bezugspunkt zum Suspense-Thriller von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1958. Hinterher haben wir uns den Film-Klassiker erneut angesehen, aber kaum nennenswerte Parallelen gefunden. Der gleiche thematische Ausgangspunkt entwickelt sich in sehr verschiedene Richtungen. Klare Referenzen zum oft zitierten Vorbild sind selten. Etwa die Szene rund um die Baumjahresringen, die im Film einfach sehr viel mehr Sinn gemacht hat.

Trotzdem eine interessante, ungewöhnliche Story
Trennt man sich von der Vorstellung, hier ein echtes Hitchcock-Spiel vor sich zu haben und lässt man sich auf die abgedrehte Story ein, dann wird bis zum Ende gute Unterhaltung geboten, und zwar mit einer für Adventures sehr ungewöhnlichen, gewagten Geschichte (für neun bis zehn Stunden Unterhaltung). Freunde von narrativer Kost wie Heavy Rain und Overclocked: Eine Geschichte über Gewalt könnten hier auf ihre Kosten kommen, obwohl es v.a. spielerisch nicht heran reicht.

Manchmal erfordert das Storytelling Geduld. Das Erzähltempo hakt stellenweise. Ein, zwei Stunden weniger wären nicht verkehrt gewesen. Bei ein paar Erinnerungen ist die Implikation früh ersichtlich, dennoch muss man sich von Erinnerung zu Erinnerung vorarbeiten. Das mag vielleicht zum Hypnose-Prozess passen, doch aus interaktiver Sicht ist das wenig unterhaltsam. Realismus steht auch keineswegs im Mittelpunkt. In Vertigo wird Hypnose vielmehr stark vereinfacht und naiv dargestellt, was in einem fiktiven Psychothriller selbstverständlich vertretbar ist.
Mutloses Gameplay
Eine polarisierende Geschichte ist verträglicher, wenn das Gameplay bei Laune halten kann. Leider wirkt das Spiel in diesem Sektor zu unschlüssig. Während Pendulo bei Blacksad: Under the Skin mit polarisierenden Quicktime-Events und Entscheidungen experimentierte und die 'Yesterday'-Reihe Rätsel hatte, bleiben in Vertigo lediglich Rudimente davon übrig. Es gibt keine Deduktionen und sonst nichts, das ansatzweise anecken könnte. Entscheidungen mit längerfristigen Konsequenzen sind Fehlanzeige, direkte Konsequenzen Mangelware.

Zwar wird die Perspektive in der linearen Erzählung immer wieder gewechselt, aber am Gameplay ändert sich dadurch wenig. Die Zahl der Hotspots beim freien Erkunden ist generell stark eingeschränkt, wodurch es kaum noch möglich ist einen Fehler zu begehen. Nimmt die Spielfigur eine Flasche, dann zeigt einem das Spiel zum Beispiel nur mehr jenen Platz an, wo man diese auch hinstellen kann. Eine Ausnahme ist das richtige Einordnen von einem Einkauf in der Küche, was aber einen sehr überschaubaren Unterhaltungswert hat. Gespeichert wird übrigens automatisch an fixen Punkten der Geschichte. Keine ideale Lösung, aber es erfüllt den Zweck.
Erinnerung durch Hypnose
Wie funktioniert die Hypnose? Erst erinnert sich Ed an etwas. Diese Erinnerung wird sogleich gespielt. In diesen Parts kann es Abweichungen zur realen Vergangenheit geben, aber sie dienen als Ausgangspunkt für Dr. Lomas, um danach die Hypnose einleiten zu können. Leider hat der Spieler keinen Einfluss darauf, wie sie das tut und kann lediglich - wie zuvor beschrieben - vier Tasten drücken, um Ed einschlafen zu lassen.

In der zweiten Spielhälfte wird der interaktive Leerlauf noch deutlicher, auch zumal es in dieser Phase kaum Hypnosen gibt. Die meiste Zeit wird damit verbracht, per Controller-Stick oder Maus/Tastatur Bewegungen zu starten. Bewegen wir uns zu etwas hin, bewegen wir den Stick oder die Maus in diese Richtung. Versuchen wir etwas zu öffnen, drückt man eben eine bestimmte Taste. Wird beispielsweise ein Wasserhahn aufgedreht, machen wir eine Vierteldrehung in gleicher Manier. Und ja, die Steuerung des interaktiven Abenteuers funktioniert wahlweise via Controller oder per Maus und Tastatur – beides klappt gut.

Nette Umsetzung mit tollem Soundtrack
Während dem Gameplay mit der Zeit also die Luft ausgeht, die die technische Umsetzung sehr ordentlich gelungen. Der 3D-Grafikstil ist einen Ticken realistischer als die früheren Werke, vermittelt jedoch weiterhin die typische Pendulo-Handschrift, insbesondere was den Look der Charaktere anbelangt. Erlebt wird das düstere Abenteuer aus der Third-Person-Perspektive. Auch die Animationen sind solide. Nur der leichte Unschärfe-Effekt ist ein wenig gewöhnungsbedürftig.

Sehr positiv fällt übrigens der richtig großartige orchestrale Soundtrack auf der für eine hervorragende filmische Psychothriller-Stimmung sorgt. Klasse. Wenig zu meckern gibt es obendrein an der deutschen Sprachausgabe, die etwa mit der englischen Fassung recht gut mithalten kann. Bei der Rolle einer älteren Frau wäre eine ältere Stimme zwar passender gewesen, aber davon abgesehen wurde gute Arbeit geleistet.
'Alfred Hitchcock - Vertigo' ist einmal mehr ein Spiel der gemischten Gefühle. Das Gameplay ist gerade in Hälfte zwei minimalistisch und während Hitchcocks gleichnamiger Kultfilm schon einen subtileren psychologischen Zugang pflegt, lebt Pendulos Eigenkreation verstärkt von den Extremen, was polarisieren dürfte. Und ja, nennenswerte inhaltliche Parallelen zum Klassiker sind sehr überschaubar.
Für mich war die abgedrehte Story dennoch spaßig, die Charakter-Entwicklung bleibt interessant. Es gibt einen roten Faden und das Thema wird konsequent durchgezogen, obwohl die Autoren immer wieder mal die Brechstange auspacken. Wer sich darauf einlassen kann, und über das recht seichte Gameplay hinweg sieht, dem wird ein abwechslungsreicher narrativer Mix geboten, der Spaß machen kann und der sich stark von anderen Adventures abhebt.
Bei 'Alfred Hitchcock - Vertigo' steht und fällt jedoch alles mit der Story. Gefällt sie einem, kann es ein nettes Abenteuer werden. Falls nicht, bietet das limitierte Gameplay keinen gesunden Ausgleich. Selbst die Entscheidungen sind kaum der Rede wert. Als Film oder Serie wäre es wahrscheinlich besser aufgehoben gewesen. Rein als Spiel betrachtet fehlt es dem Gamedesign an Substanz - auch im Vergleich zu anderen primär narrativ orientierten Titeln wie 'Heavy Rain' oder 'Life is Strange'.
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Vertigo
- Entwickler
- Pendulo Studios
- Publisher
- Microïds
- Release
- 16. Dezember 2021
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2 Kommentare
Vertigo werde ich mir aber auf alle Fälle holen, sobald die PS4/PS5 Version auf dem Markt kommt. Ich hoffe auf Januar/Februar.