Seit dem Release des aus unserer Sicht leider durchwachsenen 'Syberia 3' ist es drunter und drüber gegangen. Mit Benoît Sokal ist der Vater dieser optisch sehr markanten Reihe leider nach langer Krankheit verstorben - wenige Monate vor der Vollendung des vierten Teils. In gewisser Hinsicht ist 'The World Before' somit ein Abschiedsgeschenk. Wie gut es gelungen ist, das sehen wir uns jetzt in der Review näher an. Verfügbar ist die Fortsetzung aktuell für Windows PC, samt deutscher Vertonung. Für PlayStation und Xbox wird sie wohl etwas später erscheinen.

Anmerkungen für Syberia-Neulinge
Wer mit dem Gedanken spielt Syberia 3 nachzuholen, der sollte mit dem Lesen aufhören. Ohne Spoiler wird es im Text nicht gehen, denn inhaltlich knüpft Syberia: The World Before an die Ereignisse im Vorgänger an.

Wer hingegen lieber ins kalte Wasser springen möchte: Zwecks Auffrischung wartet im Menü eine Rekapitulation der bisherigen Ereignisse. Diese ist jedoch sehr flüchtig und für Neulinge eventuell ein bisschen verwirrend. Ihr solltet die Umgebung des Spiels in diesem Fall besonders gründlich erkunden und auch die Tagebucheinträge lesen, damit Ihr genug über das Setting wisst.
Allein auf sich gestellt
Nun zur Story des Nachfolgers: Im Zentrum von 'The World Before' steht wie gewohnt Kate Walker, die nunmehr seit bald drei Jahren fern ihrer amerikanischen Heimat lebt und vor ihrem Leben davonläuft. Einst hätte die Anwältin in der fiktiven europäischen Alpenstadt Valadilène einfach nur schnell den Kauf der Fabrik eines exzentrischen Erfinders für ihre Firma regeln sollen.

Diese Aufgabe entpuppte sich damals jedoch unerwartet als Startschuss für eine höchst abenteuerliche wie persönliche Reise, die unsere Heldin bis nach Sibirien führen sollte. Wobei anzumerken ist, dass die Welt im Spiel zwar einige Parallelen zu unserer Welt zeigt, aber in einigen Aspekten stark davon abweicht. Viele Elemente darin erinnern etwa an Steampunk.
Umso länger Kate von Zuhause fernbleibt, desto schwieriger gestaltet sich ihre Rückkehr. Im vierten Teil ist sie zunächst am Tiefpunkt angelangt. Ihr Verlobter hat sich längst von ihr getrennt, ihre Mutter ist in ihrer Abwesenheit gestorben, die amerikanische Firma will wegen des erwähnten Jobs gerichtlich gegen sie vorgehen und vieles mehr. Die Lage ist düster. Ende 2004 sehen wir sie als Gefangene in einem trostlosen Salzbergwerk, irgendwo im Gebiet der Eisernen Taiga. Sie hat fast niemanden mehr. Lediglich ihre Zellengenossin Katyusha steht ihr sehr nahe.
Im Schatten der Vergangenheit

Bei der Flucht aus dem Bergwerk kommt Katyusha ums Leben. Ihr letzter Wunsch ist, dass ihre Freundin mehr über die Frau auf dem Bild herausfindet. Just dieses Ziel bildet zugleich den narrativen Rahmen des vierten Teils der 'Syberia'-Reihe. Auf der Suche wird immer wieder in die Vergangenheit gewechselt, wo wir etwa Ereignisse aus den späten 30er-Jahren nachspielen.
Und soviel sei vorweggenommen: Syberia: The World Before erzählt bei etwa 13 Stunden Spielzeit von einer Liebesgeschichte während einer höchst düsteren Epoche in dieser ansonsten wundersamen Welt. Passend zu den bisherigen Teilen ist das Erzähltempo wieder gemächlich und Geduld ist erforderlich. Wir wurden dennoch gut unterhalten, auch wenn das Ende zwangsläufig polarisiert und manche Abschnitte ruhig schneller zum Punkt hätten kommen können.
Optisch und akustisch eindrucksvoll

Die Entwickler haben sich nach der heftigen Kritik am optisch eher durchwachsenen dritten Teil Gedanken gemacht und nahezu alles verbessert. 'The World Before' zählt visuell somit zu den besten Adventures, wodurch die Systemanforderung am PC im Vergleich zum Vorgänger zwangsläufig ein wenig gestiegen sind, aber nicht drastisch.
Die 3D-Spielwelt ist wunderschön gelungen, mit vielen Details und ordentlichen Texturen. Selbst die Mimik in den Gesichtern der Charaktere ist recht lebhaft und die Emotionen kommen gut zur Geltung. Klar, wer sehr genau hinsieht, wird kritisieren, dass der künstliche Tiefenschärfe-Effekt manchmal schlampig platziert ist, oder bei manchen Vögeln die Details fehlen, aber wer sich an solchen Details aufhängt wird mit fast keinem Spiel glücklich werden. Die erste Hälfte des Abenteuers ist optisch vielleicht einen Ticken überzeugender, doch das Niveau wird recht gut gehalten.
Viel zur hervorragenden Atmosphäre trägt der wunderbare orchestrale Soundtrack von Inon Zur bei, der die Reihe seit dem zweiten Teil musikalisch begleitet. Musik ist von besonderer inhaltlicher Bedeutung und der erfahrene Komponist läuft dabei zur Höchstform auf. Wenig auszusetzen gibt es auch an der deutschen Vertonung, die bis auf zwei oder drei nicht optimal besetzte Charaktere prima gelungen ist und mit der englischen Fassung mithält. Fairerweise war die Reihe allerdings in der französischen Originalfassung immer am stärksten, doch für einen direkten Vergleich fehlen mir leider die Sprachkenntnisse.
Spielerisch inkonsequent und selten fordernd

Die andere Hälfte von Syberia: The World Before probiert mehr, was ausgerechnet in zwei, drei möglicherweise nervigen Aufgaben mündet. Etwa sollen wir einen Brief aus einem Automaten holen und müssen dazu ständig zwischen innen und Außenperspektive per Trial-and-Error hin- und herwechseln und mehrfach nach Interaktionspunkten suchen, was in dieser Form lästig ist - selbst wenn man den Mechanismus dahinter verstanden hat. Zumal die Person der dieser Brief eigentlich gehört, niemals selbst darauf zugreifen kann. Das Versteck macht in dieser Form praktisch keinen Sinn.
Die Steuerung (wahlweise als reine Maussteuerung oder via Controller) ist über weite Strecken sehr solide und deutlich besser als die des Vorgängers. Nur in drei, vier Situationen klappt die Handhabung via Maus womöglich etwas sperriger als via Controller. Dennoch fand ich die Maussteuerung in Summe angenehmer. Ähnliches gilt für die Kameraführung, die der Spieler nicht steuern kann. Und in zwei, drei Situationen sind relevante Hotspots einfach nicht gleich ersichtlich. In einem Abschnitt sorgt der Wechsel der Perspektiven zudem für unnötige Desorientierung.

Wer meint, dieses Spiel würde sich stattdessen an der Telltale-Philosophie orientieren, der ist bis auf ein paar Maus-/Controller-Verrenkungen eher auf dem Holzweg. Dazu fehlt es einfach an nennenswerten, sinnvollen Entscheidungsmöglichkeiten, um das dünne Gameplay aufzulockern. Symptomatisch ist in diesem Kontext schon der Beginn: es geht um die Entscheidung entweder alles anzusehen und unpünktlich zu einer Veranstaltung zu erscheinen, oder eben pünktlich erscheinen und auf Erkundung großteils zu verzichten (obwohl es keinen rationalen Grund dafür gibt, warum die Spielfigur nicht auch hinterher noch erkunden kann).
Angesichts der längeren Spielzeit fallen besagte Macken nicht dramatisch ins Gewicht, aber die Macher haben beim Gameplay zweifellos noch nicht die richtige Mischung gefunden. Speziell in diesem Bereich wäre deutlich mehr möglich gewesen.
Der vierte Teil der 'Syberia'-Reihe ist wunderschön und atmosphärisch gelungen. Für meinen Geschmack zählt es optisch und akustisch zu den schönsten Adventures der Gegenwart. Im Vergleich zum Vorgänger hat sich technisch und spielerisch zudem einiges getan. Kurz gesagt: die Richtung stimmt und darauf kann Microids aufbauen.
Das Gameplay ist dennoch ausbaufähig. Angesichts der vielen lebendigen Schauplätze ist es umso mehr schade, dass bei den Interaktionsmöglichkeit gespart wurde. Die Rätsel wurden zudem etwas unausgewogen designt. Meist zu simpel und linear, dann wieder umständlich und sogar ein bisschen lästig. Zum echten Klassiker fehlt gerade in diesen Bereichen schon noch einiges.
Die gefühlvolle Story braucht Zeit und Geduld, was zur Serie passt, aber nicht jedem zusagen dürfte. Mal wird um den heißen Brei herum geredet und manches könnte ruhig schneller auf den Punkt kommen. Ich fühlte mich trotzdem gut unterhalten und wollte stets wissen, wie es weitergeht. Wer tragische Liebesgeschichten zu schätzen weiß und geduldig bleibt, der könnte damit richtig liegen. Immerhin sind die Charaktere greifbar, das stimmungsvolle Setting wurde stark umgesetzt und der hochinteressante Bezug zum Nationalsozialismus verleiht dem Ganzen zusätzlich Tiefe. Nur spannende Rätsel solltet Ihr eben nicht erwarten.
Zweites Fazit von Peter Färberböck:
Hut ab! Das Entwicklungsstudio Koalabs hat sich so einiges an der Kritik von 'Syberia 3' zu Herzen genommen. 'Syberia: The World Before' ist technisch in vieler Hinsicht besser. Die Steuerung funktioniert nun mit der Maus gut genug, optisch ist es in den besten Momenten tatsächlich wunderschön und kann sich auch mit großen Produktionen messen. In den schwächeren Moment grüßt das "uncanny valley" und es wirkt dann doch etwas hölzern. Insgesamt ist die Grafik aber auf einem hohem Niveau.
Wer 'Syberia' kennt, fragt sich aber eher, wie die Geschichte sich entwickelt und wie die Rätsel sind. Hier ist es fast wie Licht und Schatten. Die Story weiß zu überzeugen und hat mich doch recht gefesselt. Der leicht fiktionalisierte Zweite Weltkrieg samt der Verfolgung der "Vageraner" ist auch sehr passend umgesetzt. Die Reisen mit Kate Walker und Dana Roze sind spannend, gefühlvoll und doch recht natürlich umgesetzt. Dann kommt aber das Ende, das hier viel auf das Spiel setzt und sicher nicht allen gefallen wird. Gleiches gilt bei den Rätseln. Der Anfang ist fast schon spielerisch leicht und erinnert eher an ein narratives Spiel ohne große Rätsel. Witzigerweise ist das auch der Teil, der für mich in Sachen Story am besten und flüssigsten funktioniert - obwohl nicht viel passiert. Ab der Hälfte gibt es jedoch ein paar größere Automatenrätsel, die wie Morast für das Tempo sind. Natürlich eingebette Rätsel? Überhaupt nicht.
Alles in allem war es aber dann doch gut genug, dass ich es fertigspielen wollte. Die Schwächen sind nicht mehr so dramatisch wie im Vorgänger. Die Stärken sind aber viel offensichtlicher. Dazu kommt, dass dieses Mal tatsächlich auch eine Geschichte erzählt wird, die bewegend geschrieben wurde. So hatte ich viel Spaß in der Welt von 'Syberia: The World Before'.
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Syberia: The World Before
- Entwickler
- Koalabs
- Publisher
- Microïds
- Release
- 18. März 2022
- Auszeichnungen
- Die beste Grafik des Jahres
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- https://www.microids.com/game-syberia-the-world-before/
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
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23 Kommentare
Was mich aber weit eher nervt: die Tendenz Adventure heutzutage immer öfter in völlig verpixelter Simpel-, Comic- u. sonstnochwie irgendwie völlig lächerlicher Optik zu präsentieren. Wozu bitte haben wir so gute Grafikkarten? Eine Abwechslung war ja mal ganz gut - aber dass einem jetzt nur noch dieser - entschuldigung - "Grafikmüll" präsentiert wird lässt mich seit Jahren frustiert aufschreien.
Die These steht ja schon eine Weile in der Industrie, dass nun mit den neuen Konsolen und den optimierten Engines der Unterschied zwischen kleineren und dann wahrscheinlich bald milliardenschweren Produktionen noch weiter auseinanderklafft.
Ein bisschen merkt man es ja schon an den First-Party-Titeln auf den Konsolen. Anderen Fidelity (Animationen, durchgehende Grafikqualität, Motion-Capturing, Sprecher*innen, abwechslungsreiche Schauplätze, ...) kommt jetzt schon nichts mehr ran.
Im VR-Bereich sieht man das auch gerade sehr drastisch. An Half-Life Alyx kommt de facto nichts ran. Valve hat da nicht umsonst gesagt, dass so ein AAA-VR-Spiel aussehen würde. Das Geld kriegt man nur nie rein über Softwareeinnahmen rein.
Die Welt ist durchweg fantastisch designed, die Figuren etwas hölzern, aber das macht nix. Was wirklich beeindruckt, ist die Geschichte. Und da haben die Autoren des Tests maßlos untertrieben. Sie ist nicht nur spannend, sondern auch enorm komplex angelegt, herrlich altmodisch, enorm berührend und wunderbar tiefsinnig. Das gesamte Spiel fühlt sich an wie großes, altes Hollywood-Kino. Und dafür danke ich den Machern enorm.
Für mich ein absolut fantastisches Erlebnis. Ein herausragend gut geschriebenes Adventure.