Das ukrainische Studio Frogwares widmet sich nach dem Cthulhu-Mythos wieder dem altbekannten Meisterdetektiv Sherlock Holmes. In 'Sherlock Holmes: Chapter One' begleiten wir den jungen "Sherry" durch seine ersten deduktiven Fälle. Den Spitznamen bekommt er übrigens von Jon. Nein, damit ist nicht der altbekannte John Watson gemeint, sondern ein mysteriöser Jugendfreund. Ist er etwa ein imaginärer Freund? Was ist dann mit "Sherrys" Psyche im Argen? Und wie kam eigentlich Mycrofts und Sherlocks Mutter ums Leben? Auf der Insel Cordona geht es also um die Familie Holmes. Doch das ist längst nicht alles, denn Geflüchtete, Frauenrechte und selbst psychische Gesundheit sind große Themen des Spiels. Begeben wir uns in den Gedankenpalast des Sherlock Holmes.
Gleich nach der Ankunft einen Fall lösen
Gemeinsam mit seinem imaginären Begleiter Jon reist Sherlock per Schiff nach Cordona. Beide wollen das Grab ihrer Mutter Violet Holmes besuchen. Etwas an ihrem Ableben ergibt allerdings keinen Sinn und erfordert weitere Nachforschungen. Moment? Ihre Mutter? Ja, offenbar sind sie so etwas wie Brüder – zumindest im Geiste. Vom Schiff aus sehen die beiden schon prunkvolle Türme, das riesige Hotel "Il Palazzo des Lusso" (dt. Luxuspalast) und einen Zeppelin darüber schweben.
Das ungleiche Duo ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was auf der Insel alles auf sie wartet. Einige Fälle rund um die Geschichte von Cordona, ein exzentrischer Künstler, der eng mit dem Schicksal der Familie Holmes verwoben ist und der omnipräsente Schatten des großen Bruders Mycroft. Zuerst müssen sie jedoch einen Diebstahl im Palast aufklären, der zugleich als Tutorial dienen soll. Das Abenteuer startet somit in typischer Sherlock-Manier. Der junge Detektiv muss aber noch viel lernen. Bekanntschaft mit Dr. John Watson hat er in diesem Teil der Reihe noch nicht gemacht.
Sinking City trifft Sherlock
Wer 'The Sinking City' gespielt hat, wird sich schnell zurechtfinden. Die durch Brücken getrennte Insel ist gleich nach dem Hotel voll erkundbar. Auf der Karte sind nur wenige, zentrale Orte eingezeichnet: z. B. das Stadtarchiv, die Polizei oder die örtliche Zeitung. Ja, auch diese Orte sind wieder mit Archiven ausgestattet und dienen dazu, Orte und Personen zu finden. Ebenso gibt es auch keine automatischen Wegmarken, sondern in den Quest-Beschreibungen stehen stets Straßennamen, Kreuzungen oder markante Gebäude. So fühlt sich die offene Welt sehr organisch an.
Auerdem wurden (zumindest am PC) viele Probleme von 'The Sinking City' beseitigt. Besonders auffallend: Die Texturen laden nicht mehr wild nach und es wirkt auch nicht jeder dritte NPC völlig ident. Einige Personen könnten jedoch trotzdem direkt aus dem Vorgängerspiel kommen, denn manche Gesichter kommen sehr bekannt vor. Vor allem die Hauptcharaktere der Fälle sowie Sherlock und Jon sind jedoch sehr detailreich. 'Sherlock Holmes: Chapter One' wirkt in vielen Belangen wie eine Evolution des Cthulhu-Spiels. An einigen deutlichen Stellen ist es aber auch eine Stagnation. Dazu kommen wir noch.
Audiovisuelle Achterbahnfahrt
Der Ton passt: Die Sprachausgabe gibt es zwar nur auf Englisch, sie ist aber gewohnt gut. Die britischen und auch osmanische Akzente auf der Kolonialinsel sitzen. Die Bandbreite reicht dabei vom hochadeligen Singsang bis zum Minenarbeiter und klingt stets überzeugend. All das wird per deutschen Untertiteln solide übersetzt und ist durch dieses Spiel mit Dialekten und typisch britischen Dialogen wahrscheinlich die Ideallösung – zumindest geht so nichts verloren.
Gemischter ist hier schon die Grafik. Lichtstrahlen, die durch das Blattwerk von Bäumen fallen, sehen ausgezeichnet aus. Auch manche Spiegelungen im Wasserpfützen können sich sehen lassen. Vor allem die zum Teil detailreiche Innenarchitektur kann auch noch mithalten. Hier kommt aber schon das Problem zum Vorschein: "zum Teil". Vieles ist in der Grafik gemischt. Die Performance des Open-World-Abenteuers ist mäßig. Selbst auf aktuellen High-End-PCs ruckelt es schon einmal. Manche Texturen sind nicht zeitgemäß. Manche Orte wirken unfertig. Nebenfiguren wirken weiterhin wie leblose Figuren mit Glasaugen. Ein und dieselbe gebückte Frau begegnet uns in manchen Stadtvierteln an jeder zweiten Ecke. Hier merkt man sowohl das Budget als auch die Größe des Studios.
Wie in 'The Sinking City' gilt als auch in 'Sherlock Holmes: Chapter One': Weniger wäre mehr gewesen. Das Spiel dauert nämlich auch 15 bis 25 Stunden. Je nachdem, ob ihr nur die Hauptgeschichte verfolgt, oder auch die teilweise mehr als ordentlichen Nebenaufgaben, die die Hintergrundgeschichte noch deutlich ausbauen.
Spielmechanisch solide…
Wer die 'Sherlock Holmes'-Reihe und 'The Sinking City' kennt, wird spielmechanisch im investigativen Bereich recht wenige Überraschungen erleben: Wir entdecken Hinweise am Boden, auf Tischen oder bei der Untersuchung von Personen. In der Fallsammlung finden wir alle Hinweise.
Der große Unterschied zur 'Sherlock'-Reihe ist allerdings, dass wie beim Cthulhu-Abenteuer die Hinweise in der Fallsammlung markiert werden müssen, um einzelne Dinge erst entdecken zu können. Rote Symbole über den einzelnen Hinweisen zeigen an, wozu diese Hinweise gut sind: z. B. ein Auge für Beobachtungen in der Welt, eine Kompassrose als Hinweis auf einen Ort oder eine Sprechblase für Dialoge. Dazu kommen einzelne Spuren, die nur im speziellen Konzentrationsmodus gefunden werden können.
Im Rekonstruktionsmodus wird zudem der Hergang von Taten nachvollzogen. Dieser ersetzt sozusagen den Deduktionsmodus. Sherlock fällt dabei in eine Art Trance, in der er sich in Gedanken mit handgezeichneten Figuren vorstellt, was wo passiert ist. Ihr wählt dann aus einer fixen Anzahl aus, was wo stimmt. Es gibt hier nur eine Lösung. Erst im altbekannten Gedankenpalast ändert sich das, denn hier sind die wirklichen Entscheidungen versteckt. Dieser ist jedoch nur für die Hauptstory relevant.
In den Nebenaufgaben gibt es ebenfalls Entscheidungen, doch die sind primär in den Dialogen zu fällen: Lassen wir Personen laufen liefern wir sie aus? Das Spiel wird nie sonderlich schwer. Spielmechanisch sind es in Summe also eher Rückschritte zum Höhepunkt bei 'Sherlock Holmes 7: Crimes and Punishments'. Dafür ist 'Sherlock Holmes: Chapter One' tatsächlich flüssig zu spielen. Sofern man zumindest einen Controller hat, der sehr zu empfehlen ist. Per Maus und Tastatur kann es zwar auch bedient werden, aber der Controller ist definitiv die optimalere Variante.
… aber diese unsinnigen Kämpfe
Weniger fad, aber dafür sehr ärgerlich sind die Actionsequenzen. Dabei muss man betonen: Sie sind nicht schwer und lassen sich bis auf unnötige optionale Banditenlager per Tastenknopf überspringen. Das wirkt insgesamt nur wenig durchdacht, denn die Banditenlager braucht man nur für ein Achievement. Selbst wenn man sich zur Aufgabe macht, alle verkauften Erbstücke der Familie Holmes bei den Händlern zusammenzusuchen, reicht es die Nebenaufgaben zu machen.
Fast wirkt es so, dass Frogwares wusste, dass das nicht die sonderlich sinnvolle Mechanik ist, oder sie hatten einfach keine Zeit mehr. Die Actionsequenzen sind halbe "Rätsel", wenn man das so nennen kann. Man muss zuerst Panzerungen (falls vorhanden) der Gegner mit der Pistole wegschießen, was dank Zielhilfe kein Problem ist. Dann gibt es noch zusätzlich Gegenstände an den Figuren oder in der Umgebung, mit denen man sie nach Entfernen der Panzerung betäuben kann. Hat man sie betäubt, kann man sie per Quicktime-Event "verhaften" – also ohne Töten unschädlich machen.
Es gibt ein paar Story-bezogene Konsequenzen in manchen Aufgaben, wenn man sie stattdessen einfach mit Körper- oder Kopftreffern tötet. Ärgerlich ist jedoch, dass es zwar einen einstellbaren Schwierigkeitsgrad gibt, der aber keinerlei Konsequenzen hat. Die Kämpfe sind übrigens deshalb eher leicht, weil Sherlock unglaublich viel Lebensenergie hat, die sich regeneriert. Die einzige Herausforderung ist, dass das Quicktime-Event nicht viel Zeit gibt und diese Zeitspanne lässt sich nicht verlängern. Zugänglichkeit wird nicht so großgeschrieben, wie etwa in manchen AAA-Produktionen. Insgesamt kommt es auf ein Auswendiglernen der verschiedenen Gegnertypen an, um zu wissen wann man sie ausschalten kann. All das ist unnötig und dank der miserablen KI und Steuerung weder herausfordernd noch spaßig.
Höhen und Tiefen
Bislang ist 'Sherlock Holmes: Chapter One' bei uns nicht schlecht weggekommen. Kommen wir zum Inhalt. Was für die Grafik gilt, gilt auch für die Story. In den guten Momente ist sie brillant und lädt zum Diskutieren ein. Ja, es behandelt den Kolonialismus und die soziale Situation dieses fiktiven 19. Jahrhunderts sehr gut. Ja, es macht einige Dinge wirklich progressiv und stell da auch große US-Produktionen in den Schatten. Und ja, fürs gemeinsam über die Geschichte der Zeit zu plaudern – mit vielleicht einer kurzen Überblickslektüre dazu – ist das Spiel hervorragend geeignet. Die Story selbst ist jedoch manchmal schwer an den Haaren herbeigezogen und ein paar Entscheidungen von Holmes ergeben wenig Sinn.
Dieser junge Sherlock zählt zu den unsympathischsten Versionen, die man bis jetzt in der Popkultur gelesen, gesehen oder gespielt hat. Er ist Chauvinist, ihm schert die soziale Ungerechtigkeit rein gar nicht und auch Nepotismus ist ihm kein Fremdwort. Wenn da nicht Jon wäre, denn der erdet die Figur. Die Vereinigung des gütigen, äußerst "modern" – sprich zeitgenössisch für das 21. Jahrhundert – und des aristokratisch, rein logisch und wenig emotional denkenden Holmes ist genau das, wie wir ihn sonst schätzen. Er hat zwar einen messerscharfen Verstand, setzt ihn aber meist für "das Gute" ein. Genau das müssen wir im Spiel für "Sherry" tun. Seine Kommentare selbst wirken eher gleichgültig. Das macht ihn gerade so unsympathisch. Mit dem eigenen Rollenspiel und mit der Zeit der Geschichte lichtet sich das und wird besser. Zwischendurch fragt man sich, warum er so entscheidet.Die Nebenquests selbst sind spürbar nur Beiwerk, denn sie sind deutlich weniger komplex als die Hauptstory. Dafür steckt genau dort oft die bessere Erzählung dahinter. Das soll allerdings nicht heißen, dass man alle spielen sollte. Wirklich gut sind sie nämlich nicht alle, sondern nur ein Teil davon.
Nach 'Sherlock Holmes and the Devil’s Daughter' war ich skeptisch, ob das die richtige Richtung ist. Nach ‘Sinking City‘ blieb die Hoffnung in dieser Vision der offenen Welt als investigativen Spielplatz. Die Action war nur leider eine Katastrophe. In 'Sherlock Holmes: Chapter One' wurde daran gefeilt – leider nicht unbedingt zum Besseren. Sie ist nun einfach nervtötend repetitiv und gibt dem Spiel rein gar nichts. Das Überspringen der Action-Sequenzen ist unbedingt zu empfehlen.
Zudem ist der junge Holmes ein unsympathischer Mensch, den man erst dahin trimmen muss, wie die "Sherlock Holmes"-Fans ihn kennen. Und dann wäre da die etwas wechselhafte Qualität in Story und Grafik. Es bleibt am Ende leider der Satz übrig, den ich zu oft nach solchen Spielen sage: Das Potenzial für einen Klassiker ist da, aber es fehlt an vielen Details und insgesamt an der Rahmung. Fans des Charakters kommen bei dieser Origin-Story vermutlich trotzdem nicht herum. Ob das dann zum Vollpreis sein muss, ist eine andere Frage. Ich fühlte mich schon unterhalten, wenn auch teilweise genervt oder zumindest enttäuscht.
-
Sherlock Holmes: Chapter One
- Entwickler
- Frogwares
- Publisher
- Frogwares
- Release
- 16. November 2021
- Webseite
- https://sherlockholmes.one/
- Sprachen
-
- Systeme
-
- Stichwörter
- Sherlock Holmes: Chapter One im Epic Store kaufen (Affiliate-Link)
10 Kommentare
Kein Publisher und somit auch kein Geld dafür. Sie haben dieses Mal die Eigenvermarktung eingeschlagen. Vermutlich waren die Konflikte mit den vorigen Publishern ein treibender Grund.
Da bleibt dann für die Sprachausgabe meist nichts übrig. In Anbetracht der Größe der Spielwelt und dem doch recht überschaubaren Team ist das schon ein wenig verständlich.
Spiegelt sich auch auf Steamspy wieder. Letzter Rang! Und Devils Daughter hatte 1-2 Millionen Verkäufe.
https://steamspy.com/dev/Frogwares
Naja, ist auch nicht mehr schade drum.
10.000 Reviews bei Devil's Daughter --> ~ 1 Mio. verkaufte Exemplare.
Üblicher Faktor 80-100 --> ungefähr 70.000 Verkäufe als Schätzung.
nach einem Monat als Indie ohne Publisher. Das geht. Sinking City hat sich meines Wissens auch auf den Konsolen schon besser verkauft. Das wird bei dem Titel auch nicht viel anders sein.
Spekulation: ein perfekter Fluff-Titel für die Abo-Dienste, was ihnen, wenn sie Glück haben, nochmal ordentlich Geld reinspülen kann.
Seit Testament / Crimes & Punishment hat sich das Studio aber auch gehörig verjüngt, was ich so auf linkedin sehe.
Also: Ja, es ist noch kein Megahit, aber wahrscheinlich hat sich das derzeit schon gelohnt.
Zumal der Vollpreis von 45 Euro in Kombination mit dieser Art von Gameplay jetzt einige zögern lassen wird. Nebenbei werden einige klassische Adventure-Fans am PC auch wegen der hohen Anforderungen zögern.
Fakt ist allerdings auch, dass Frogwares diesmal alles selber finanzieren muss und da konzentriert mans ich dann eben oft aufs Wesentliche (worunter fast nie eine deutsche Sprachausgabe fällt). Zumal eine Vertonung bei um die 25 Stunden Content nochmal deutlich teurer kommt als bei herkömmlichen Adventures. Da müsste dann schon z.B. ein deutscher Publisher kommen, der sich um die deutsche Vertonung kümmert und den Box-Release hierzulande regelt (was auch früher immer die typische Herangehensweise war)
Das hat mMn wenig mit der Sprachausgabe zu tun. Die Leute haben eben keinen Bock auf paar schlechte Spiele in Folge.
Ist wahrscheinlich zu einem großen Teil eine Zielgruppenfrage. Ich vermute mal, Chapter One wird eine andere Zielgruppe ansprechen wie etwa Crimes and Punishments.
Wir werden die letzten 3 guten Sherlock Games immer in guter Erinnerung halten.
Der Charakter erinnert mich sehr an einen Schauspieler, aber der Name fällt mir nicht ein.
Da ich aber mal ein Sherloock Holmes spielte, wäre das hier nicht uninteressant.